Anne Tyler scheint auch mit 83 die Freude am Schreiben nicht verloren zu haben. Ihr neuer, schmaler Roman „Drei Tage im Juni“ zeigt die Pultizer-Preisträgerin auf der Höhe ihrer Meisterschaft, das Menschliche in all seinen Facetten zu beschreiben. Drei Tage braucht sie dafür, eine Hochzeit und einen Fehltritt. Nichts Dramatisches, alles in geregelten Bahnen und trotz aller Kürze ein wichtiges Buch. Warmherzig und witzig. Ein Buch über die Liebe, über Zweifel und Vertrautheit.
Mangelnde Sozialkompetenz?
Mit 61 erfährt Gail, stellvertretende Schuldirektorin, von ihrer Vorgesetzten, dass es ihr an Sozialkompetenz mangele. Ausgerechnet kurz vor der Hochzeit ihrer Tochter Deborah, genannt Debbie. Ich-Erzählerin Gail ist wütend und verwirrt. Könnte Marilee Recht haben? Und dann will auch noch der Ex-Mann Max bei ihr übernachten – mit Katze. Gails anfängliche Ablehnung wandelt sich im Lauf der Zeit in ein Gefühl der Vertrautheit, leichte Störungen und kleinliche Streitigkeiten inklusive.
Fehltritt mit Folgen
Als Debbie ihren Eltern davon berichtet, dass ihr Bräutigam Kenneth sie womöglich betrogen hat, wird Gail auf einen Fehltritt gestoßen, der letztlich zum Ende ihrer Ehe geführt hat. Nicht Max war daran schuld, sondern sie: „Warum hatte ich, obwohl ich meinen Mann ehrlich liebte – zumindest auf die immer nur halb glückliche Art des ewigen Hin und her, des Vielleicht/Vielleicht nicht der meisten Ehefrauen -, meine ganze Welt für einen anderen zerstört, den ich im Grund kaum kannte? Aber vielleicht war es genau das gewesen – ich hatte ihn nicht gekannt. Es gibt Zeiten, da ist nichts so verlockend wie das.“
Gespräche wie Häkelarbeiten
Jetzt also nach 20 Jahren diese so vertraute Zweisamkeit mit dem Ex. Anne Tyler kennt das und kann es auf unnachahmliche Art beschreiben: „Man vergisst nämlich, wenn man einige Zeit allein war, dass es sie gibt – diese Gespräche zwischen Eheleuten, die sich mit Unterbrechungen wochenlang hinziehen können, die sich wie eine Häkelarbeit verästeln, schlafen legen und alte Gesprächsfäden wieder aufnehmen.“
Der Blick in den Spiegel
Es ist ihr Gefühl für die Menschen, ihr tiefes Verständnis für die Alltags-Dilemmata, die Anne Tyler zu einer großen Autorin machen. Wunderbar nachvollziehbar auch Gails Schrecken über das eigene Altern: „Im Badezimmerspiegel sah ich alt aus. Niemand warnt einen, dass das Gesicht an manchen Tgen von Falten durchzogen und and anderen fast völlig glatt sein wird. An diesem Tag war es faltig. Die Augen waren zu Dreiecken gestaucht, und die Stirn war so tief gefurcht, dass sie mich an ein Blatt liniertes Papier erinnerte.“ Und dann kommt Max „in seinem neuen Anzug und Hemd und einer grauenhaften Krawatte… Tja, das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Wenigstens sah er nicht alt aus.“
Info Anne Tyler. Drei Tage im Juni, Kein&Aber, 205 S., 23 Euro
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