Zwischen Vorgestern und Übermorgen

19. November 2024

Überraschend schnell scheint sich Saudi- Arabien zu wandeln. Kronprinz Muhammad bin Salman (MbS) will seine Land im Rekordtempo vom Vorgestern ins Übermorgen führen und hat publikumswirksam Reformen angestoßen, die vor allem die Situation der Frauen verbessern. Nadine Pungg hat diesen epochalen Wandel bei ihrer monatelangen Reise durchs Land miterlebt. In dem Buch „Frühling in Saudi Arabien“ schreibt sie über ihre Begegnungen mit selbstbewussten Frauen, die mehr Teilhabe fordern,  aber auch über hinterwäldlerische Dörfer, in denen Männer ihre Frauen noch als Eigentum betrachten.

Das Land der Extreme

Diesen Widersprüchen begegnet Nadine Pungg nicht nur zwischen Stadt und Land. Der ganze Staat oszilliert zwischen Extremen: „Saudi-Arabien ist weder Himmel noch Hölle. Es ist ein kompliziertes Land, in dem verschiedene Realitäten gleichzeitig nebeneinander existieren. Ein erzkonservatives Königreich und eine junge Nation mit technologiebegeisterten Digital Natives. Saudi-Arabien ist Abgeschlossenheit und Weltoffenheit, ist Beduinenromantik und futuristische Stadtplanung, ist rote Linie und Ausreizung der Grenzen. Saudi-Arabien ist Gottesfurcht und Exzess, ist Absolutismus und Chaos, Tinder und Todesstrafe, Tabu und Tabubruch. Brutal und sanft. Saudi-Arabien ist das Einerseits und das Andererseits. Das Himmelblaue und das Finsterschwarze.“

Die dunkle Seite des Regimes

Das „Finsterschwarze“ erleben Dissidenten wie Raif Badawi, der 2014 zu zehn Jahren Haft und eintausend Peitschenhieben verurteilt wurde. 2015 wurde er erstmals öffentlich ausgepeitscht, war aber nach 50 Hieben so sehr verletzt, dass man die weiteren verschob und später aussetzte. Auch die Billiglohnarbeiter sind immer noch weitgehend rechtlos. Nadine Pungg verschweigt nicht die dunkle Seite des Regimes, die mit dem Mord an dem Journalisten Jamal Kashoggi in Istanbul weltweit Entsetzen hervorrief.

Neue Freiheiten, neue Superlative

Und doch sieht die Autorin, die sich gut mit ihren Gesprächspartnern verständigen kann, auch viel Positives: Die Reisefreiheit für Frauen. Die neuen Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen. Die neue Öffnung, durch die Touristen ins Land kommen – und mit ihnen eine andere Weltsicht. Nadine Pungg ist nicht nur in den Metropolen unterwegs, sie wagt sich auch in abgelegene Provinzen. Sie kommt auch dahin, wo der ehrgeizige Kronprinz touristisches Potenzial sieht. Und sie macht sich ihre eigenen Gedanken über die neuen Superlative wie The Line, eine 170 Kilometer lange Stadt mit verspiegelter Außenseite, 200 Meter breit und so hoch wie das Empire State Building.

Herzliche Gastfreundschaft

Faszinierend und erschreckend zugleich scheinen der Autorin solche Pläne, Science Fiction in die Gegenwart geholt. Doch, was Nadine Pungg mehr als alles andere in Erinnerung behalten wird, ist die herzliche Gastfreundschaft der Menschen, die sie mit Geschenken überhäuften. Den hilfsbereiten Männern und den tatkräftigen Frauen gilt ihre Sympathie ebenso wie den Kindern, denen sie eine Zukunft frei von rigiden Vorschriften und Zwängen wünscht.
Nadine Pungg öffnet mit ihrem Buch ein Stück weit die Tür zu einem Land, das sich noch bis vor ein paar Jahren hermetisch abgeschlossen hatte. Folgt man ihr durch Städte und Dörfer, bekommt man Lust, die Menschen dort selbst kennenzulernen.

Info  Nadine Pungg. Frühling in Saudi-Arabien, Malik, 288 S., 18,95 Euro

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