Wer träumt nicht davon, fliegen zu können – leicht wie ein Vogel? Sofia im Roman „Der Traum vom Fliegen“ von Milena Moser kann das, aber sie hat keinen Einfluss auf den Flug, fühlt sich ausgeliefert. Denn jeder Flug konfrontiert sie mit dem Elend dieser Welt: Der Traum wird zum Alptraum.
Behütet und gemobbt
Das Wunschkind zweier schwuler Männer, wächst in einer behüteten Umgebung auf und ist lange eine Vorzeigetochter. Doch Sofia, die schon früh vom Fliegen träumt, ist auch einsam, wird in der Schule gemobbt. Trotzdem erhält die begabte Schülerin einen Studienplatz an einer privaten Elite-Uni, sogar ein Stipendium. Doch das alles verliert sie wieder. Denn um dem Alptraum des Fliegens zu entgehen, futtert sich Sofia zum Schwergewicht.
Zumutungen des Klinik-Alltags
Die beiden Väter sind ratlos, wissen sich nicht anders zu helfen, als Sofia in eine Klinik zu bringen – in der Hoffnung, dass sie dort abnehmen werde. Das verwöhnte Mädchen wehrt sich anfangs gegen die Zumutungen der Ärzte und Psychotherapeuten. Auch die Mitbewohnerin Emerald, die sich mit einer Instagram-Inszenierung als „Cancergirl“ zum Ziel eines Shitstorms gemacht hatte, nervt sie.
Neue Freunde
Doch allmählich lässt sich Sofia auf die veränderten Umstände ein, findet in der magersüchtigen Emerald mit dem ausgeprägten Wunsch nach Nähe sogar so etwas wie eine Freundin. Sie lernt, hinter die Fassaden zu blicken, ersten Eindrücken zu misstrauen. So kommt sie auch Zach näher, dem gescheiterten Tech-Guru, und Carmel, der verzweifelten Lotto-Millionärin. Beide wie Sofia mit einer Superkraft ausgestattet, die ihnen persönlich wenig weiterhilft: Zach kann Gedanken lesen und erfahrt dabei nur, wie schlecht die Leute von ihm denken. Carmel kann unsichtbar sein, dabei fühlt sie sich ohnehin ungesehen. Aber gemeinsam könnten sie stark sein.
Lehre aus dem Scheitern
Doch die „Superhelden“ wider Willen drohen schmählich an der einzigen Aufgabe zu scheitern, die sie sich stellen. Es geht darum, die verpeilte Therapeutin Skye vor ihrem aggressiven Mann zu retten. Mit von der Partie ist dabei Skyes Sohn Blue, mit dem Sofia die Angst vor zu großer Nähe teilt. Dass die echte Superkraft Freundschaft ist, erkennt nicht nur das Superhelden-Trio. Auch Blue und Sofia lernen schließlich, einander zu vertrauen.
Der Coming-of-Age-Roman der Schweizer Autorin Milena Moser erzählt von den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf junge Menschen, thematisiert die daraus resultierenden Probleme wie Mobbing und Einsamkeit und kommt doch fast federleicht daher – auch wegen der Ausflüge in die Magie. Lesenswert!
Hineingelesen…
… in die Frage der Freundschaft
„Vielleicht geht es ja in Wirklichkeit darum.“ Carmel hatte sich wieder beruhigt. Sie machte eine ausholende Geste mit beiden Händen, als lege sie ein unsichtbares Band um sie drei. „Um uns drei. Vielleicht können wir einander helfen.“ Sie überlegte einen Moment. „In den Büchern, die ich als Kind gelesen habe, musste der Geheimclub schon immer ein Verbrechen aufklären oder ein Unrecht wiedergutmachen. Aber die Grundlage war ihre Freundschaft, das war der Boden, auf dem die eigentliche Geschichte wuchs.“ Carmel nahm die Idee mit dem Geheimclub sehr ernst. Sofia würde sich nicht wundern, wenn sie ihnen als Nächstes vorschlug, ein Baumhaus zu bauen oder Blutgeschwisterschaft zu schließen.
„Zweckgemeinschaft, schreib Sofia auf die neue Seite. „Was du gesagt hast, Carmel, das leuchtet mir ein. Die Freundschaft ist die Grundlage. Und von der Grundlage aus können wir immer noch die Welt retten. Wenn das wirklich unsere Aufgabe ist.“ Sie schwieg einen Moment. Zuletzt hatte sie Freundschaft in der Grundschule erlebt. Damals hatten die Verbindungen auf Gemeinsamkeiten beruht, der Tatsache, dass sie dieselbe Schule besuchten, im selben Fußballteam spielten, dieselbe Farbe am schönsten fanden, sich dasselbe Haustier wünschten – ein Pony. Kaum hatte Sofia angefangen, sich für andere Dinge zu interessieren, waren auch die Freundschaften zerbrochen. Und nun das. Diese beidenm mit denen sie auf den ersten Blick nichts gemeinsam hatte. Die letzten Menschen, die sie sich bewusst als Freunde ausgesucht hätte. Ein Geheimclub der Unfreiwilligen.
„Genau das hat mich in diesen Büchern immer interessiert“, sage Carmel. „Wie dies so unterschiedlichen Kinder Freunde sein konnten. Da war immer ein Superhirn dabei, eine Sportliche und vielleicht noch jemand aus einer reichen Familie.“
„Ach, das ist doch einfach das Einmaleins des Storytellings“, warf Zach ein, „Archetypen, die unterschiedliche Funktionen erfüllen, mit der Realität hat das nichts zu tun.“
„Sehr hilfreich“, knurrte Carmel.
Sofia brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Nein, das ist wichtig. Welche Funktionen erfüllen wir, wer spielt welche Rolle?“
Info. Milena Moser. Der Traum vom Fliegen, Kein & Aber, 284 S., 24 Euro
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