Bachtyar Ali gilt als der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller des autonomen irakischen Kurdistan. Seit Mitte der 1990iger Jahre lebt er im Exil in Köln. Doch in seinen Romanen und Gedichten kehrt er zurück in seine Heimat. So auch im Roman „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“, einem modernen Märchen. Djamschid Khan heißt dieser Onkel, wie der Autor ist er Kurde, und nach Foltererfahrungen nicht nur Haut und Knochen, sondern leicht und durchsichtig wie Papier.
Höhenflüge und Bodenhaftung
So leicht ist Djamschid, dass er immer wieder vom Wind erfasst und verweht wird, wobei er jedes Mal einen Teil seiner Erinnerungen verliert. So wird er zum heimatlosen und geschichtsvergessenen Menschen. Dafür ist er fähig zu Höhenflügen – gesichert an einem Seil, das seine Neffen Salar und Smail halten. Und doch reißt der Wind den papierdünnen Mann immer wieder mit sich fort.
Odyssee am Himmel
Es ist eine wilde Odyssee, wie Djamschid selbst einmal seine Flüge beschreibt. Und immer wieder erfindet er sich neu – als Aufklärungsflieger und Pazifist, als Frauenheld und Ehemann, als Gottgesandter und Prophet, als ruchloser Schlepper, als Volksbelustigung wider Willen und später als skrupelloser Erpresser. Während der Onkel ohne Erinnerung durch seine Abenteuer treibt, bleibt sein Neffe Salar Khan dem Heimatboden verhaftet – ohne Aussicht auf Veränderung. Die bringt ihm nur der fliegende Onkel mit seinen unglaublichen Verwandlungen.
Onkel und Neffe
Auch wenn der Neffe Djamschid manchmal um seine Flug-Fähigkeit beneidet, bleibt er bodenständig. Ein braver Jünger, der dem Onkel in all seinen Wünschen zu Willen ist ohne viel zu hinterfragen. Und doch ist es Salar Khan, den Bachtyar Ali diese abenteuerliche Geschichte aufschreiben lässt, nachdem der Onkel endlich gelernt hat, allein zu gehen.
Parabel aufs Leben
Das schmale Büchlein liest sich wie eine Parabel auf das Leben der Menschen in einer Diktatur. Und eigentlich kann jedermann und jedefrau sich einen Reim darauf machen, was die bessere Alternative ist: Einfach davonfliegen und sich immer wieder neu erfinden oder ausharren ohne Aussicht auf Veränderung.
Hineingelesen…
…in Djamschids ersten Flug
Aber der Wind trug ihn weiter und weiter. Von oben sah er die ganze Stadt, die Lichter der Straßenbeleuchtung, die Scheinwerfer der Autos auf den breiten und langen Straßen, aber seine Angst erlaubte es ihm nicht, den Anblick zu genießen. Ein heftiger Windstoß torpedierte ihn in die weiten des Himmels, und er verlor die Besinnung.
Niemand weiß, welche Strecken er in seiner luftigen Höhe zurücklegte, wie lange er dort oben schwebte und wie viele Flugrunden der Wind den bewusstlosen Djamschid Khan am Himmel drehen ließ. Jedenfalls führte er ihn unserer Stadt zu, auf die bekanntlich jedes Unwetter und jeder Orkan aus allen vier Himmelsrichtungen zusteuert, und ließ ihn da fallen. Verbürgt ist, dass er nach seinem langen Flug, der im Gefängnishof begonnen hatte, auf das Dach einer Autowerkstatt in unserer Stadt fiel, wo er bei Tagesanbruch von einem Lehrling gefunden wurde.
Solange wer schwebte, war Djamschid noch Kommunist. Kaum aber war er auf dem Dach gelandet, konnte er sich daran nicht mehr erinnern. Der Wind, der ihn nordwärts trug, hatte ihn sein früheres Leben vergessen lassen.
Wundersame Wandlungen geschahen, wenn der Wind ihn verwehte. Neue Leidenschaften und Träume erwachten in ihm, sobald er am Boden aufschlug. Mit jedem Sturz schwand oder verblasste eine Teil seiner Erinnerungen. So kommt es, dass ich mich zwischendurch frage: Wie soll ich es schaffen, das Leben eines Mannes zu erzählen, der ständig von neuem sein Gedächtnis verlor.
Info Bachtyar Ali. Mein Onkel, den der Wind mitnahm, Unionsverlag, 150 S., 20 Euro
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