Isabel Allende kann auch mit 80 Jahren vom Schreiben nicht lassen. Die erfolgreichste lebende Schriftstellerin Lateinamerikas hat immer noch viel zu sagen. Auch in ihrem neuen Roman Violeta. Er handelt – wie sollte es bei der engagierten Frauenrechtlerin auch anders sein – von einer starken Frau und von einem geschichtsträchtigen Jahrhundert. Denn Violeta ist 100 Jahre alt, als sie beschließt, ihrem Enkel Camilo ihr Leben zu erzählen. Und sie verspricht: „Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman“.
Was für ein Leben
Und was für ein Leben das war: Eine missglückte Ehe, eine toxische Liebesbeziehung, aus der zwei Kinder hervorgingen und eine erfolgreiche Karriere als Unternehmerin. Die tödliche Drogensucht der Tochter, die Verfolgung des politisch aktiven Sohnes, die Erziehung des mutterlosen Enkels Camilo, eine neue Liebe, und gar eine Wanderung auf dem Jakobsweg. 400 Seiten prall gefüllt mit Erlebnissen, politischen Ereignissen und Anekdoten.
Die Jahrhundertfrau
Eine eigenwillige und selbstbewusste Heldin, die zu ihren Schwächen ebenso steht wie zu ihrer Familie. Da hat Isabel Allende wieder aus dem Fundus der eigenen Familiengeschichte geschöpft, hat das Schicksal der Mutter mit der eigenen Vita verwoben. Violeta, die Jahrhundertfrau, ist trotzdem ein ganz eigenständiger Charakter.
Von der Konservativen zur Aktivistin
Bürgerlich, eher der konservativen Richtung zugeneigt, verurteilt sie zunächst den gefährlichen politischen Aktivismus des Sohnes, auch noch, als er erzählt, wie grausam und menschenverachtend das Regime ist: „Juan Martin berichtete uns von Schnellverfahren und standrechtlichen Erschießungen, von Gefangenen, die unter der Folter starben, von Tausenden und Abertausenden, die am helllichten Tag weggebracht wurden vor den Augen von allen, die es wagten, aus dem Fenster zu schauen.“ Lang hält Violeta solche Erzählungen für „kommunistische Propaganda“, aber eigene Erfahrungen belehren sie eines Besseren. Und so wird die Bürgerliche im höheren Alter noch zur Aktivistin und engagiert sich für Frauenrechte – mit einer Stiftung für misshandelte Frauen.
Breites Spektrum im Roman
Ja, Isabel Allende hat auch mit 80 Jahren noch viel zu sagen. Das Spektrum des Romans reicht von sexueller Abhängigkeit bis zu Corona („Ich bin 1920 während der Grippepandemie geboren, und werde 2020 während der Coronapandemie sterben.“), von Drogenmissbrauch bis zur Colonia Dignidad, die hier nur wenig verschleiert Colonia Esperanza heißt. Und ja, Allende wird gern geschwätzig, holt weit aus, verbrämt auch so manches.
Sexuelle Schwärmerei
Womöglich stößt sie auch mit dem Bekenntnis Violetas zu sexueller Ungezügeltheit vor den Kopf. „Ich hoffe, dieser kurze Ausflug ins Sexuelle ist dir nicht unangenehm“, schreibt die Großmutter an ihren Enkel, den Priester, um dann von ihrem Traummann Julián zu schwärmen: „Wir waren der einzige Mann und die einzige Frau im Universum, allein in vollkommener Lust. Der Orgasmus war eine Offenbarung.“
Subjektive Geschichte
Der Traummann („Er war ein Held wie aus einem Roman“) macht Violetas Leben bald zu einem Alptraum, zieht sie hinein in seine mafiösen Geschäfte mit gewalttätigen der Junta und kollaboriert mit so ziemlich allen Diktatoren Lateinamerikas. Auch das ist typisch Allende. Die politischen Dramen werden eingebettet in persönliche Geschichten. Doch Violeta darf das, es ist ihr Leben, das sie hier erzählt – radikal subjektiv. Wer Isabel Allende mag, wird auch diese Heldin mögen.
Info Isabel Allende. Violeta, Suhrkamp, 400 S., 26 Euro
Keine Kommentare