Daniel Glattauer nimmt in seinem neuen Roman „Die spürst du nicht“ die Lesenden mit auf eine Achterbahn der Gefühle und am Ende auch mit zu Menschen, „von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren“. Wie viele Tragödien fängt auch diese Geschichte ganz harmlos an. Zwei befreundete Familien fahren in die Toskana, um Ferien in einer noblen Villa mit Pool zu machen: die Binders und die Strobl-Marineks und ihre drei Kinder. Mit dabei ist auch eine Freundin der ältesten Strobl-Marinek-Tochter, Aayana, ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia.
Tragödie in der Idylle
Alles scheint perfekt, Aayana fällt nicht weiter auf. Die Familien genießen das milde Klima, den Wein, die Urlaubsatmosphäre. Doch die Idylle zersplittert schnell, denn Aayana ertrinkt im Pool. Für die beiden Familien ist der Urlaub vorbei, ihr Leben geht weiter. Aber nichts ist, wie es vorher war. Vor allem die 14-jährige Sophie Luise fühlt sich allein gelassen. Von den Mitschülerinnen gemobbt sucht sie Trost im Internet. Hier lernt sie Pierre kennen, der sie mit seinen Zeichnungen aufmuntert. Über Chats, in denen So-Lu, wie Pierre sie nennt, sein Deutsch verbessert, kommen sie sich näher.
Chats und Internet-Kommentare
Daniel Glattauer kann das, den speziellen Chat-Sound. Aber auch Twitter-Kommentare, kurze Zeitungsnotizen zu dem Fall, die immer wieder neue Details enthüllen. Denn Elisa Strobl-Marinek ist nicht nur Sophie Luises Mutter, sie ist auch Grünen-Abgeordnete. Das macht den Fall für die Öffentlichkeit pikant.
Juristisches Nachspiel
Und dann hat die Tragödie in der Toskana auch noch ein juristisches Nachspiel. Über einen Anwalt fordern die Eltern von Aayana 200 000 Euro Schmerzensgeld. Die Empörung bei den Strobl-Marineks ist zunächst groß. Ihr Star-Anwalt macht sich über den gegnerischen Anwalt lustig, hält die Klage für aussichtslos. In der Verhandlung führt Glattauer seine Figuren regelrecht vor, degradiert sie zeitweise zu Karikaturen. Umso eindringlicher ist das Ende dieses oft ins Komödienhafte abgleitenden Dramas.
Eine Frage der Menschlichkeit
Daniel Glattauer versteht es, über scheinbar Belangloses, ja Absurdes, zum Kern zu kommen – fehlende Mitmenschlichkeit. Das betrifft die Familien, denen eine gemeinsame Kommunikation abhanden gekommen ist ebenso wie die Schule, in der Mobbing zum Alltag zu gehören scheint. Und es betrifft die Einstellung unserer Gesellschaft zu denen, die bei uns Hilfe suchen.
Spiegelbild der Gesellschaft
Der österreichische Autor hat das Schreiben dieses Romans als stilistische Abenteuerreise bezeichnet. Das ist der Roman auch – aber noch viel mehr: Daniel Glattauer hält unserer priviligierten Gesellschaft den Spiegel vor.
Hineingelesen…
… ins Schul-Mobbing
Was soll über den Verlust einer Mitschülerin, nämlich Aayana, gesprochen werden. Der Mann mit den freuchten Augen will für alle in der Klasse ein offenes Ohr haben, was nützt ein offenes Ohr, wenn keiner den Mund aufmacht. Über Aayana gibt es sowieso nichts zu sagen, es weiß ja niemand etwas über sie. So spricht der Seelsorger einfach über den Tod als solchen, den man sich nicht so furchtbar und endgültig und sinnlos vorstellen soll, also das übliche Kirchengerede. Hinter ihrem Rücken spürt Sophie Luise die auf sie gerichteten Blicke so scharf und stechend, dass sie richtig wehtun. Sogar die Herbrecht schielt immer wieder komisch zu ihr hinüber, enttäuscht von ihr oder mitgleidig, wer kann das schon sagen.
„Was ist mit Aayana eigentlich genau passiert?“ fragt schließlich ausgerechnet Carola, die Megatussi, die sich immer einen feuchten Dreck um Aayana geschert hat.
Die Herbrecht und der Mann mit der Bindehautentzündung stottern abwechselnd herum und faseln etwas von „hat Wasser in die Lunge bekommen“, „das geht so schnell“, „aber völlig schmerzlos“, „ganz ohne Leiden“, „wie wenn man schläft“ – es kommt schon fast einer Heiligsprechung des Ertrinkungstodes gleich.
Irgendwann reicht es Sophie Luise, sie steht auf und sagt: „Ihr braucht gar nicht so zu tun, ihr wisst es doch eh alle. Aayana war mit uns im Urlaub, sie ist im Schwimmbecken ertrunken, keiner kann was dafür.“
„Wolltest du ihr nicht das Schwimmen beibringen?“ ätzt Carola.
„Dazu ist es leider nicht mehr gekommen, sie ist schon vorher ins Wasser gegangen, keiner hat es bemerkt. Wir haben sie dann alle noch zu retten versucht, mit Mund-zu-Mund-Beatmung und allem, was man machen kann, aber sie war schon tot. So, und jetzt lasst mich damit bitte in Ruhe.“
Den Gefallen zu weinen tut ihnen Sophie Luise jedenfalls sicherlich nicht. Sie nimmt schnell ihren Rucksack und eilt bei der Tür hinaus. Der Mann mit den feuchten Augen ruft ihr noch etwas nach, aber das hört sie gar nicht mehr.
Daheim erzählt sie ihrer Mama, dass in der Schule alles in bester Ordnung sei. Es hat ja keinen Sinn, wenn die sich auch noch kränkt, sie ist ohnehin schon angezählt, wie man so sagt.
Info Daniel Glattauer, Die spürst du nicht, Zsolnay, 304 S., 25 Euro
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