Unschuld gegen Niedertracht

10. Dezember 2021

Junge mit schwarzem Hahn? Warum sollte man eine Geschichte lesen, die vor 500 Jahren spielt? Über einen Jungen, der nichts hat als einen schwarzen Hahn? Weil Stefanie vor Schulte etwas ganz Seltenes gelungen ist. Ein poetisches Märchen, in dem sich Grauen und Gnade die Waage halten.

Fast wie die Gebrüder Grimm

Es liegt an der Sprache, die so einfach und klar daherkommt, als wären die Gebrüder Grimm wieder auferstanden. Und es liegt natürlich an der Geschichte dieses merkwürdigen elfjährigen Martin, der sich in einer grässlichen von Grausamkeit beherrschten Welt seine Unschuld und Menschlichkeit bewahrt.

Die Mission des schwarze Hahns

Daran, dass das Kind ganz allein den Kampf gegen das Unrecht aufnimmt, ist der schwarze Hahn schuld. Der Vogel begleitet Martin, seit der Bub als einziger die Familientragödie überlebt hat – und er kann sprechen. Das Märchenhafte passt zu dieser seltsamen Geschichte wie die fast surreal gezeichnete Landschaft, in der die schwarzen Reiter ihr Unwesen treiben und Kinder entführen.

Eine Welt am Abgrund

Es ist eine Welt voller Bosheit, Elend und Aberglauben, in der womöglich die Wölfe mehr Mitgefühl haben als die Menschen. Und die grässliche alte Fürstin zieht die Fäden all dieser Schicksale.
Nur der Maler, mit dem Martin eine Zeitlang übers Land zieht, scheint immun gegen den Fluch – und das Kind mit seinem fast naiven Streben nach Gerechtigkeit. Dieses Streben stärkt Martins Widerstandskraft und lässt ihn auch in finstersten Zeiten überleben.

Ein Held fürs Herz

Vielleicht muss man Märchen mögen, um sich von dieser Geschichte fesseln zu lassen. Aber dieser kindliche Held rührt ans Herz. Man möchte ihn an die Hand nehmen, auf dass ihm nie wieder Unheil geschehe.
Warum also sollte man diese Geschichte lesen? Nicht nur, weil sie so geheimnisvoll und märchenhaft ist. Auch, weil sie uns wie im Zerrspiegel die menschlichen Schwächen vor Augen führt: Dummheit, Gier, Feigheit, Eitelkeit, Neid. Um dagegen gewappnet zu sein, braucht der Junge den schwarzen Hahn – und die Liebe.
Wie er seine Aufgabe meistert, ist ein erstaunlich beglückendes Leseerlebnis.

Hineingelesen…

…in Martins Kindheit mit Hahn

Eine unfassbare Kühle, die in den Mauern wohnt und in Martin die Erinnerungen seiner Existenz aufruft, als hätten sie sich zu melden. Und da gehören auch jene Erinnerungen hinzu, die sich ihm eigentlich verschließen müssten, weil er zu klein gewesen war.
Wie er in dieser Kirche getauft wurde. Schnell und bescheiden, aber von lächelnden Menschen getragen. Die harten, abgearbeiteten Hände der Mutter. Trotzdem warm, und abends ihr langes Haar auf seinem Gesicht, wenn sie versuchte, sich zu kämmen und den kleinen Jungen gleichzeitig zu stillen. Glück hier. Das Brummen des Vaters, um ihn zu beruhigen. Denn geweint hat er. So viel geweint, als könne er in sein Schicksal schauen und darüber bereits untröstlich werden. Den Jungen beklagen, der er einmal sein muss. Den Jungen, dessen Füße voller Blasen sind, dessen Leib voller Wunden, während das kleine Säuglingsselbst noch unversehrt und weich ist. Ganz neu und rein in all dem Durcheinander der kleinen Hütte, in der geschimpft und gelacht wird, in der Suppe dampft und anderntags wieder gehungert wird. In der er Küsse von den Geschwistern bekommt. Und sein Weinen erst ein Ende nimmt, als die Mutter mit dem Besen einen frechen Fuchs von den Hühnern wegscheucht und dafür das Baby auf den Sandboden legt zwischen all die Körner, wo ihn der Hahn findet.
Das Tier stolziert um das Kind, es wird einander betrachtet, ab diesem Moment hat das Schreien ein Ende, und Martin wird nie wieder mäkeln und weinen. Seine Augen sind jetzt ganz neugierig, groß und schön. Alles kann nun in ihnen ruhen. Ewig sind sie auf das schwarze Tier gerichtet. Und auch das Tier, nun umgekehrt, schaut nur noch nach dem Kind und gibt keine Ruhe, wenn es nicht bei ihm ist. Ab da unzertrennlich und ganz friedlich miteinander. Und der Vater hat mit der Schulter gezuckt. Was soll‘s, dachte er, dass es ein Hahn ist, und die Leute reden. Das Kind ist glücklich. Sei‘s drum.
Martin legt die Hand um den Hahn. Den treuen Freund.

Info Stefanie zur Schulte. Junge mit schwarzem Hahn, Diogenes, 226 S., 22 Euro

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