Corona im Café
Rezensionen , Romane / 14. Oktober 2024

Corona in Mailand. Eine typische Straße in der Stadt: „Da ist sie, die Via Marghera, eng und elegant, auch diese Straße ändert sich nie, mit unbekümmerter Ironie erträgt sie die Zeit.“ Mittendrin das Café Royal, zentraler Treffpunkt der gut situierten Menschen, die hier wohnen und zu Pandemie-Zeiten mehr denn je an ihrer Existenz leiden. Marco Balzano hat sie in seinem Episodenroman „Café Royal“ porträtiert. Die 18 Episoden, benannt nach den jeweiligen Protagonisten, fügen sich zum Bild einer Gesellschaft, die an der Langeweile zu ersticken droht. Träumen und Hadern Da ist der Arzt, der seine Patienten nicht mehr sehen kann. Der Aushilfspriester, der mit seinem Glauben hadert: „Ich lese die Messe wie ein Postbeamter.“ Der Kellner, der von einer unerfüllbaren Liebe träumt. Die Ehefrau und Mutter, die aus Langeweile eine Affäre mit dem Jugendfreund beginnt. Die einsame Alte, die ihren Kindern eine Nase dreht. Die Adoptivtochter, die wegen des Lockdowns die Bindung an die Adoptiveltern vertieft. Die Frau, die sich beim Martini-Trinken in einen Fremden verliebt. Der Hilfskoch, der mit der jungen Obdachlosen tändelt… Komplexes Beziehungsgeflecht Die Episoden sind aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, mal in der Ich-Form, mal berichtet der auktoriale Erzähler, auch ein Brief ist dabei. Meist geht es um…

Dreistimmige Abrechnung
Rezensionen , Romane / 7. Oktober 2021

Wer kennt sie nicht, die stillen Helferinnen in den (fast) leeren Wohnungen? Ohne die Polinnen oder Rumäninnen, die monatelange ihre Familie gegen einen zu pflegenden Alten oder eine Alte eintauschen, wären viele Familien überfordert. Marco Balzano hat sich in seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ dieser Frauen angenommen, die auch in Italien unabkömmlich sind. Es ist eine dreistimmige Abrechnung mit unserer Gesellschaft geworden, die ihr Wohlleben auf die Ausbeutung anderer gründet. Verwaiste Familie Die Rumänin Daniela hat einen Taugenichts als Mann und zwei heranwachsende Kinder. Um ihnen ein besseres Leben zu sichern, stiehlt sie sich heimlich aus dem Haus und geht sie als ungelernte Altenpflegerin nach Italien. Die verlassene Familie muss sich neu organisieren, und tut sich damit schwer. Sohn Manuel fühlt sich von der Mutter verraten, Tochter Angelica von der neuen Mutterrolle, in die sie zwangsweise schlüpft, überfordert. Der Vater flieht in einen Job als LKW-Fahrer. Schließlich übernehmen die Großeltern die Erziehung des Jungen. Das geht gut, bis der Großvater stirbt – und Manuel in einem existentiellen Nirvana zurück lässt. Marco Balzano lässt erst den Jungen aus seiner Perspektive erzählen und erteilt dann der Mutter das Wort, die ihr schlechtes Gewissen kaum beruhigen kann. Nachdem Manuel als Folge eines…

Fingerzeit im Reschensee
Rezensionen / 3. August 2020

Der Mailänder Marco Balzano ist einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Sein Roman „Das Leben wartet nicht“ wurde mit dem Premio Campiello ausgezeichnet. Mit seinem neuen Buch „Ich bleibe hier“ hat sich der 42-jährige Italiener Südtirol zugewandt. Der aus dem Reschensee aufragende Kirchturm, der für viele Touristen einen Fotostopp wert ist, hat Bolzano nachhaltig beeindruckt und zu einem Roman inspiriert, der mehr noch als eine berührende Familiensaga eine Lektion in europäischer Geschichte ist. Ein Ort, den es nicht mehr gibt „Ich hatte die Idee, das hervorzuholen, was im Wasser versunken ist“, schreibt der Autor in seinen Anmerkungen. Versunken ist das Bergdorf Graun, in dem die junge Lehrerin Trina vor dem Zweiten Weltkrieg lebt – unter erschwerten Bedingungen. Die Ich-Erzählerin Trina beschreibt die Probleme in Aufzeichnungen für ihre Tochter Marica, die Graun und der Familie den Rücken gekehrt hat: „Ich werde dir berichten, was sich hier in Graun abgespielt hat. An dem Ort, den es nicht mehr gibt.“ Die Geschichte von der Option Trinas Schwägerin und ihr Mann hatten Marcia bei Nacht und Nebel mit nach Deutschland genommen. Sie gehörten 1939 zu den sogenannten Optanten. Das waren Südtiroler, die sich für die Auswanderung ins „Deutsche Reich“ entschieden hatten. Trina und ihre Familie…

Vorbei gelebt
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Vier Jahre am Fließband die Drehmaschine überwachen und weitere achtundzwanzig auf einem Gabelstapler – das bin ich… Ein Roboter, kein Mensch. Ein mechanischer Arm, kein Herz.“ Der Ich-Erzähler ist ein älterer Mann, der sein Leben verpasst hat – zuerst in der Fabrik, dann im Gefängnis. Wie es dazu kam, davon erzählt Marco Balzano in dem Roman „Das Leben wartet nicht“. Eine Kindheit in extremer Armut Alles beginnt Ende der Fünfziger Jahre in einem sizilianischen Dorf, wo der kleine Ninetto, so heißt der Erzähler, aufwächst, in extremer Armut. Den Spitznamen Pelleossa, Haut und Knochen, behält er sein Leben lang. Der Kleine ist ein guter Schüler, er hätte womöglich eine bessere Zukunft vor sich; aber nach dem Schlaganfall seiner Mutter schickt ihn der gewalttätige Vater nach Mailand, um Geld zu verdienen. Nach der Strafe ist das Leben ein anderes  Der Bub wurstelt sich so durch, geht mit 15 in die Fabrik, heiratet und wird Vater einer Tochter. Jahre später bringt ihn ein unglücklicher Zwischenfall ins Gefängnis. Als er seine Strafe abgebüßt hat und wieder frei kommt, erkennt er, dass das Leben nicht auf ihn gewartet hat. Seine Tochter hat den Kontakt mit ihm abgebrochen, die Enkelin kennt ihn nicht einmal. Das bittere…