Das Schweigen des Dorfes
Rezensionen , Romane / 14. Oktober 2024

Donatella Di Pietrantonio kennt die Gegend um Pescara, von der sie in ihren Romanen erzählt. Das spürt man in jeder Zeile. Und als Kinderzahnärztin hat die Schriftstellerin viel Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen. Auch die ist in ihren mit dem Premio Strega ausgezeichneten Roman „Die zerbrechliche Zeit“ eingeflossen. Leben im Lockdown Der Roman erzählt die Geschichte eines kleinen Ortes. Zugleich ist es die Geschichte der jugendlichen Amanda, die im Lockdown in das ungeliebte Zuhause zurückkehrt. „Mailand hat mir eine erloschene Tochter zurückgegeben“, stellt die Mutter traurig fest. Zwischen dem Schweigen Amandas und der Wortkargheit ihres Vaters versucht sich die Ich-Erzählerin Lucia in der Erklärung ihres eigenen Lebens und seiner Zerbrechlichkeit. Gesammeltes Schweigen Früh ahnt man, dass die Menschen unter dem Dente del Lupo, dem Wolfszahn, an einem Unglück leiden, das sie nie bewältigt haben. Auch Amanda hat etwas erlebt, das ihr Grundvertrauen erschüttert hat. Wie das Dorf begräbt sie das Erlebte, indem sie sich zurückzieht. Unheilvoll hängt dieses gesammelte Schweigen über dem Alltag. Lucia sorgt sich um ihre Tochter, fühlt sich ausgeschlossen: „Das geheime Leben der Kinder. Wir wissen, dass es existiert, sind aber nie darauf gefasst, es zu berühren.“ Seelenlandschaft Der Dente del Lupo in den Abruzzen mit dem…

Sex and the family
Rezensionen , Romane / 26. August 2024

Der Ire Paul Murray kann erzählen, seitenlang. Auch sein hochgelobter Roman „Der Stich der Biene“ ist ein dicker Brocken. Die 700 Seiten über eine dysfunktionale Familie in den irischen Midlands haben es 2023 sogar auf die Shortlist des renommierten Booker Prize geschafft. „Sie werden in diesem Jahr keinen traurigeren, spannenderen und lustigeren Roman lesen“ wird der Guardian auf dem Umschlag zitiert. Sinnbild des Zerfalls Tatsächlich ist diese Geschichte über den Niedergang der Familie Barnes teilweise urkomisch, teilweise Furcht erregend aktuell und immer spannend. Murray lässt die Lesenden hinter die Fassade blicken – auf eine irische Gesellschaft, wie man sie so nicht kennt. Der  Zerfall der wohlhabenden Familie steht sinnbildlich für den Zerfall der Gesellschaft, die nach dem Motto zu leben scheint „Jeder für sich und Gott gegen alle“. Ein ungleiches Paar Im Mittelpunkt der Geschichte, die Paul Murray aus den unterschiedlichen Perspektiven der Familie erzählt, steht Dickie, der den prosperierenden Autosalon seines Vaters an die Wand fährt. Nach dem Unfalltod seines charismatischen Bruders Frank hat Dickie dessen Geliebte geheiratet, obwohl er während seines Studiums in Dublin seine Homosexualität entdeckt und mit einem Freund ausgelebt hat. Imelda kommt aus prekären Verhältnissen: Der Vater ein nichtsnutziger Säufer, die Brüder bis auf den…