Anne Tyler scheint auch mit 83 die Freude am Schreiben nicht verloren zu haben. Ihr neuer, schmaler Roman „Drei Tage im Juni“ zeigt die Pultizer-Preisträgerin auf der Höhe ihrer Meisterschaft, das Menschliche in all seinen Facetten zu beschreiben. Drei Tage braucht sie dafür, eine Hochzeit und einen Fehltritt. Nichts Dramatisches, alles in geregelten Bahnen und trotz aller Kürze ein wichtiges Buch. Warmherzig und witzig. Ein Buch über die Liebe, über Zweifel und Vertrautheit. Mangelnde Sozialkompetenz? Mit 61 erfährt Gail, stellvertretende Schuldirektorin, von ihrer Vorgesetzten, dass es ihr an Sozialkompetenz mangele. Ausgerechnet kurz vor der Hochzeit ihrer Tochter Deborah, genannt Debbie. Ich-Erzählerin Gail ist wütend und verwirrt. Könnte Marilee Recht haben? Und dann will auch noch der Ex-Mann Max bei ihr übernachten – mit Katze. Gails anfängliche Ablehnung wandelt sich im Lauf der Zeit in ein Gefühl der Vertrautheit, leichte Störungen und kleinliche Streitigkeiten inklusive. Fehltritt mit Folgen Als Debbie ihren Eltern davon berichtet, dass ihr Bräutigam Kenneth sie womöglich betrogen hat, wird Gail auf einen Fehltritt gestoßen, der letztlich zum Ende ihrer Ehe geführt hat. Nicht Max war daran schuld, sondern sie: „Warum hatte ich, obwohl ich meinen Mann ehrlich liebte – zumindest auf die immer nur halb glückliche Art…
Moa Herngren hat mit ihrem Roman „Scheidung“ in Schweden einen Bestseller gelandet. Wahrscheinlich auch deshalb, weil viele Lesende die Problematik kennen und sich im Roman wieder erkennen. Wie heißt es immer so schön: Es gehören immer zwei dazu, wenn eine Partnerschaft nicht funktioniert. Das ist auch bei Bea und Niklas nicht anders – auch wenn Bea es nicht wahrhaben will. Trautes Heim, Glück allein? Hat sie nicht immer alles getan, um Mann und Töchtern ein schönes Heim und ein harmonisches Familienleben zu verschaffen? Und Niklas? Was hat er schon dazu beigetragen? Ja, ohne sein Gehalt als Kinderarzt könnten sie sich die luxuriöse Wohnung, die Reitstunden für die eine Tochter und so manche Extra-Ausgabe nicht leisten. Dafür hat sie der Familie zuliebe auf eine eigene Karriere verzichtet und begnügt sich mit einer eher bescheidenen Entlohnung beim Roten Kreuz. Mehr als eine Midlife-Crisis Moa Herngren lässt Bea als erste zu Wort kommen, ihren ganzen Frust ablassen. Doch die journalistisch versierte Autorin weiß, dass es zwei Wahrheiten gibt. Und deshalb darf Niklas auch ausgiebig seinen Standpunkt klarstellen. Warum will er nach einem eigentlich lächerlichen Streit raus aus der Beziehung? Da ist mehr dahinter als die übliche Abnützung in einer langen Ehe oder eine…
Ein Sommerabend, das klingt harmlos, ja einladend. Doch in Cécile Tlilis gleichnamigem Romanerstling werden an diesem Sommerabend ganze Lebensentwürfe zertrümmert. Die Pariserin inszeniert ein fesselndes Kammerspiel mit vier Personen, zwei Paaren. Gegensätzliche Paare Die Männer, Etienne, der attraktive Gastgeber, und der eher unscheinbare Rémi, kennen sich aus Studienzeiten. Der eine kommt aus einer angesehenen Familie und ist wie sein Vater Anwalt. Der andere hat sich das Studium hart verdienen müssen und ist Lehrer geworden. Doch für Rémi hat sich mit der Beziehung zu der gebürtigen Tunesierin Johar alles geändert. Denn die ehrgeizige Johar hat sich zäh nach oben gekämpft – auch gesellschaftlich. Auf die junge, schüchterne Claudia, die neueste Eroberung des Frauenlieblings Etienne, wirkt die Karrierefrau einschüchternd. Umso mehr bemüht sie sich, die Einladung zu einem Erfolg zu machen. Unterschiedliche Aussichten Doch das schafft nicht einmal ihre gute Küche. Von Anfang an liegt eine fiebrige Spannung in der Luft: Johar steht vor einem neuen Karrieresprung, und Claudia hat erfahren, dass sie schwanger ist. Gegensätzlicher könnten die Aussichten für die beiden Frauen nicht sein. Das wird nicht so bleiben, auch wenn Johar der Versuchung nicht widerstehen kann, den anderen ihren möglichen Aufstieg an die Spitze des Konzerns zu verraten. Egoistische Pläne…
„Hinter verschlossenen Türen“, so auch der Titel des Romans von Sacha Naspini, passiert so einiges, was das Licht der Öffentlichkeit scheut. Der Autor, der selbst aus Grosseto kommt, öffnet die Türen des fiktiven Dorfes Le Case in der Maremma für eine staunende und immer wieder auch schockierte Leserschaft. Naspini hat ein vielstimmiges Porträt eines sterbenden Ortes geschrieben, rau und rücksichtslos. Bösartiger Chor Im Zentrum der Geschwätzigkeit steht Samuele, der Waisenjunge, der Le Case den Rücken gekehrt hatte und nach einer Mordankläge zurückgekommen war. Um ihn ranken sich viele der Geschichten. Lügenmärchen, Erinnerungen, Verleumdungen. Samuele ist so etwas wie der rote Faden in diesem vielstimmigen, oft bösartigen Chor. Dass er anders war als die wenigen gleichaltrigen Jungs im Dorf, erfährt man, dass er Schach geliebt hat, und wohl auch seine Großmutter, bei der er nach dem Verschwinden seiner Mutter aufgewachsen ist. Geschichten vom Überleben Wer Samuele wirklich war, darf er selbst erzählen, kurz bevor alles zu Ende ist – das Buch und Le Case. Doch davor konfrontiert Sacha Naspini die Lesenden mit der ganzen Boshaftigkeit der Dorfbewohner – und mit Geschichten vom Überleben. Wie die des deutschen Soldaten, den eine Mutter aus Le Case bei sich aufnahm, um aus ihm einen…
Neulich im Fernsehen: „Sie sagt, er sagt“, ein Stück von Ferdinand von Schirach über eine Vergewaltigungsklage und die unterschiedlichen Perspektiven. Darum geht es auch in dem aufrüttelnden Roman „Service“ von Sarah Gilmartin. Service um schreibt die dienstbaren Geister in einem Restaurant. Dass vor allem die Service-Kräfte, also die Kellnerinnen, immer zu Diensten sind, ist ein weit verbreiteter Irrtum, dem nicht nur männliche Gäste erliegen. Nein heißt nein Lange Zeit galten das Tätscheln des Hinterns, der tiefe Blick ins Dekolleté als Kavaliersdelikt. Das hat sich mit der #MeToo-Bewegung grundlegend geändert. Doch viele Männer scheinen es noch nicht begriffen zu haben. Zu ihnen gehört auch der Sternekoch Daniel, der seinerseits über die Anmache von zumeist älteren Kundinnen klagt. Doch er hat nicht erkannt, dass auch für Chefs gilt: Ein Nein ist ein Nein. Hannahs Grenze Ziel seiner unwillkommenen Avancen ist die hübsche, blutjunge und naive Hannah. Auch wenn sie zwischendurch den Versuchungen von Alkohol und Drogen erliegt und die Bevorzugung durch den Chef genießt, zieht sie immer eine Grenze. Nach einem Abend voller Stress und der anschließenden Alkohol und Drogen geschwängerten Feier des Personals in der Küche, passiert dann, was Hannah unbedingt vermeiden wollte. Der Zorn der Frauen Doch zur Anklage gegen…
Wer träumt nicht davon, fliegen zu können – leicht wie ein Vogel? Sofia im Roman „Der Traum vom Fliegen“ von Milena Moser kann das, aber sie hat keinen Einfluss auf den Flug, fühlt sich ausgeliefert. Denn jeder Flug konfrontiert sie mit dem Elend dieser Welt: Der Traum wird zum Alptraum. Behütet und gemobbt Das Wunschkind zweier schwuler Männer, wächst in einer behüteten Umgebung auf und ist lange eine Vorzeigetochter. Doch Sofia, die schon früh vom Fliegen träumt, ist auch einsam, wird in der Schule gemobbt. Trotzdem erhält die begabte Schülerin einen Studienplatz an einer privaten Elite-Uni, sogar ein Stipendium. Doch das alles verliert sie wieder. Denn um dem Alptraum des Fliegens zu entgehen, futtert sich Sofia zum Schwergewicht. Zumutungen des Klinik-Alltags Die beiden Väter sind ratlos, wissen sich nicht anders zu helfen, als Sofia in eine Klinik zu bringen – in der Hoffnung, dass sie dort abnehmen werde. Das verwöhnte Mädchen wehrt sich anfangs gegen die Zumutungen der Ärzte und Psychotherapeuten. Auch die Mitbewohnerin Emerald, die sich mit einer Instagram-Inszenierung als „Cancergirl“ zum Ziel eines Shitstorms gemacht hatte, nervt sie. Neue Freunde Doch allmählich lässt sich Sofia auf die veränderten Umstände ein, findet in der magersüchtigen Emerald mit dem ausgeprägten…
Ein Buch wie ein Axthieb: Ehrlich bis zur Selbstaufgabe schildert Matt Rowland Hill in „Erbsünde“ sein Leben mit der Drogensucht. Und man wundert sich, dass dieser Mann trotz allem 39 Jahre alt werden konnte. Elterliche Hölle Der Autor wird als Sohn eines Baptistenpastors und seiner pietistischen Frau in Südwales geboren und erlebt früh den moralischen Druck der Kirche, der ihn allerdings nicht von seiner Lieblingsbeschäftigung abhält: Der Junge masturbiert gern und ausgiebig – eine Art Flucht aus der elterlichen Hölle, in der sich Vater und Mutter Bibelsprüche um die Ohren hauen. Traumatischer Bruch Erst in der Jugend macht der Junge den nächsten Schritt, folgt seinen intellektuellen Zweifeln und bricht mit Eltern und Religion. Aber die Prägung seiner Kindheit klebt an ihm wie die Erbsünde an den Gläubigen. Hill taumelt von einem Extrem ins andere. Er entdeckt die Welt der Drogen und verfällt ihr wie seine Familie der Bibel verfallen war. Spirale von Sucht und Abstürzen Für den begabten jungen Mann beginnt eine Spirale von Drogenträumen, Traumata, Entzugs-Erfahrungen und Chaos. Mal schafft er es zwei Jahre, sich von Drogen fern zu halten. Mal ist er vier Jahre clean, um dann doch einen Rückfall zu erleben, schlimmer noch als alle anderen. Es…
Es ist Sommer in der Stadt, und Odessa, die Schönheit am Schwarzen Meer, verspricht ein besonderes Lebensgefühl. Davon erzählt Irina Kilimnik im Roman „Sommer in Odessa“. Die Ich-Erzählerin Olga lebt mit Mutter, Tanten und Cousinen in einer zusammengestückelten Wohnung, typisch für das alte Odessa. Wo‘s lang geht, bestimmt der Großvater, der Töchter und Enkelinnen schikaniert. Die schönste Stadt der Welt Olga hat schon längst die Nase voll von seiner herrischen Art und der Ergebenheit der Frauen. Ihr Medizinstudium, das sie auf Wunsch der Familie begonnen hat, kotzt sie an. Wäre da nicht der indische Freund Radj hätte sie es schon längst an den Nagel gehängt. Aber da ist auch noch die „beste Freundin“ Masha, charmant und flatterhaft, die Olga immer wieder mit neuen Plänen und neuen Männern überrascht. Und natürlich Odessa mit seinen Stränden und der quirligen Altstadt. „Die schönst Stadt der Welt“, sagt Mascha plötzlich. „Ich weiß nicht, ob ich hier weggehen soll, die Vorstellung macht mich irre.“ Alte Liebe Kurz flammt die alte Liebe wieder auf, als Sergej, der Traummann aus Kindertagen, wieder zurück aus Deutschland ist. Der begabte Pianist sähe Olga am liebsten als Musikerin, was ihr Selbstverständnis erschüttert. Auch zu Hause geht es drunter und drüber….
Rebecca Wait schreibt gern über Familien, auch in ihrem neuen Roman „Meine bessere Schwester“. Und wie heißt es so schön bei Tolstoi: „…jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“. Die Familie von Alice und Hanna ist besonders unglücklich. Das liegt schon am Erbe der Mutter Celia. Das eher hässliche und schüchterne Mädchen stand lange im Schatten ihrer schönen und klugen Schwester Katy, bis diese in die Schizophrenie abdriftete. Ihr Schicksal hängt fortan wie eine dunkle Wolke über der Familie. Die freudlose Celia krallt sich in ihrer Verzweiflung den Freund ihrer einzigen Freundin, Paul. Dominante Mutter Neben den Zwillingen Alice und Hanna haben den beiden noch den wenig auffälligen und eher gefühlsarmen Sohn Michael. Celia wird zu einer dominanten Mutter, die in der Furcht lebt, ihre Kinder könnten die Schizophrenie ihrer Schwester geerbt haben. Irgendwann entflieht Paul dem lieblosen Haushalt in die Arme einer jüngeren Frau. Ungleiche Zwillinge Trotz des häuslichen Elends steht die hübsche Hanna meist im Mittelpunkt einer großen Freundeschar. Aber der unscheinbaren Alice droht ein ähnliches Schicksal wie Celia, ein Leben ohne Freunde und ohne Liebe: Alice ohne Wunderland. Doch dann scheint sich bei Hanna Katys Erbe zu manifestieren. Die lebenslustige junge Frau verfällt in eine tiefe…
Es ist heiß, brandheiß. Gleich über dem Fluss gegenüber vom Hotel brennt der Waldl ichterloh. Die meisten Menschen haben das Dorf verlassen, nur die Hotelerbin hält noch tapfer stand. Nein, dies ist nicht die Beschreibung eines der derzeitigen Waldbrände, es ist der Beginn eines im wahrsten Sinn des Wortes brandaktuellen Romans. Geschrieben hat ihn die gebürtige Augsburgerin Franziska Gänsler. „Ewig Sommer“ ist das Debüt der jungen Autorin, die heute in Wien lebt. Eine der letzten im Ort „Franziska Gänsler schreibt mit einer ungeheuren sprachlichen Kraft… und erzeugt gleich von der ersten Seite an so viel Spannung, dass man das Buch nur so verschlingt“, lobt der Verlag. Franziska Gänsler schreibt aus der Sicht von Iris, die das Hotel von ihrem Großvater geerbt hat. Als eine der letzten harrt sie im ehemaligen Kurort Bad Heim, der inzwischen in einem Waldbrandgebiet liegt, aus – rauchend und auf Regen hoffend. Mutter und Tochter Es gibt keine Gäste im Hotel, kaum mehr Menschen im Ort bis auf Baby, die dicke, alte Frau, die scheinbar schon immer da war. Und das Klimacamp vor dem brennenden Wald. Für Iris vergehen die Tage in Monotonie. Und dann klopft eines Tages Dori an die Tür, eine junge Mutter mit…