Mit „Long Island“ knüpft Colm Tóibín an seinen Roman „Brooklyn“ an, in dem die junge Irin Eilis in den 1950er-Jahren zum Arbeiten nach New York kommt und dort heimlich den Italiener Toby heiratet. Bei einem Besuch in der Heimat trifft sie ihre Kindheitsliebe Jim wieder und verbringt mit ihm und den Freunden Nancy und George einen glücklichen Sommer. Rund 20 Jahre später lebt Eilis mit Tony und ihren Kindern in „Long Island“. Doch glücklich ist sie nicht. Denn Tony hat sie mit einer Nachbarin betrogen – und die erwartet ein Kind aus diesem Seitensprung. Flucht in die Heimat Eilis weigert sich strikt, dieses Kind aufzunehmen. Ganz im Gegensatz zur italienischen Großfamilie, die darin kein Problem sieht. Die Irin fühlt sich zunehmend unverstanden in dem Familienverbund und beschließt, zum 80. Geburtstag ihrer Mutter nach Irland zu reisen, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Jim und seine Pläne Doch es kommt anders als geplant. Denn in der irischen Kleinstadt lebt immer noch Jim, der nie geheiratet hat. Allerdings hat er sich nach langem Zögern dazu entschlossen, mit der inzwischen verwitweten Nancy ein neues Leben anzufangen. Bringt Eilis diese Pläne ins Wanken? Es ist vor allem die Sprachlosigkeit der Protagonisten, die…
Manchmal hat man bei dem amerikanischen Autor T.C. Boyle das Gefühl, er könne Dinge vorhersagen. In seinem neuen Buch versammelt er unter dem Titel „I walk between the raindrops“ 13 Kurzgeschichten, die der TV-Kritiker Denis Scheck als „starke Geschichten für heftige Zeiten“ bezeichnet. Und gleich in der ersten – Titel gebenden – Geschichte nimmt er vorweg, was vor kurzem im Schweizer Graubünden die Menschen aufgeschreckt hat: „Die riesigen Niederschlagsmengen ließen eine Mure abgehen, die alles, was auf ihrem Weg zum Meer lag, vor sich herschob: Häuser, Wagen, Bäume, Felsblöcke und dreiundzwanzig meiner Nachbarn, die in den darauffolgenden dunklen, kalten, knirschenden Stunden unter Erdmassen begraben und getötet wurden.“ Geschichten aus dem Alltag Wie macht der Mann das? Ganz einfach, Boyle schöpft in dieser apokalyptischen Geschichte aus dem eigenen Erleben. Was der Klimawandel, eines seiner Herzensthemen, gerade bei uns anrichtet, hat Kalifornien schon erlebt. Und der Amerikaner war schon immer ein kritischer Beobachter der gegenwärtigen Entwicklungen. Daraus entstehen dann so köstlich-bösartige Alltagsgeschichten wie „Die Wohnung“, in der eine alte Frau, die einfach nicht sterben will, den Mann in den Wahnsinn treibt, der sie über den Tisch ziehen wollte. Oder die beängstigende Beschreibung einer Zugfahrt, in der eine allein reisende Frau einem Incel…
Da ist er wieder, der geniale Erzähler Rafik Schami, ein würdiger Erbe orientalischer Geschichtenerzähler. So ein Hakawati steht auch im Zentrum von Schamis neuem Roman „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“. Es ist wieder ein dickes Buch geworden aber weniger ein Roman als eine Geschichtensammlung. Ein bisschen 1001 Nacht Die Rahmenhandlung ist eher dürftig und erinnert ein bisschen an 1001 Nacht: Jasmin, die Tochter des Königs ist verliebt in einen Fischer und ahnt, dass die Beziehung unpassend ist. Weil sie keine Hoffnung sieht, erkrankt sie und kein Arzt weiß Rat. Da kommt Karam, der Hakawati, und bietet seine Hilfe an. Heilen will er die lebensmüde Prinzessin mit Hilfe von Geschichten. Nicht nur den eigenen, möglichst viele sollen erzählen. Zehn Nächte und ein gutes Ende Und so strömen die Untertanen in die große Halle, wo der König, die Prinzessin und ihre Zofe Nura den Geschichten lauschen. Zehn Nächte braucht Karam, um Jasmin ihre Lebenslust zurückzugeben – und sie mit ihrem Liebsten zu vereinen. Während dieser Zeit entspinnt sich auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Witwer und der smarten Zofe Nura sowie zwischen Karams Tante Samia und dem Bettler Nader. Ein Ende wie es sich für ein Märchen gehört. Dramatische Vorgeschichte Die Vorgeschichte…
Blue Skies, so der Titel des neuen Romans von T.C. Boyle sind im Kalifornien dieser Tage Alltag – ebenso wie die daraus folgende Dürre. Der Klimawandel lässt grüßen. Naturkatastrophen sind keine Schlagzeilen mehr wert: Brände in Kalifornien, Überschwemmungen in Florida. Die Menschen scheinen sich damit abzufinden. Und wenn alles immer schlimmer wird, hilft der Alkohol. Zumindest in der Familie, aus deren unterschiedlichen Perspektiven T.C. Boyle erzählt. Eine Familie im Mittelpunkt Ottilie und Frank versuchen, sich anzupassen und Ottilie nimmt Heuschrecken im Speiseplan auf. Sohn Cooper, der Insektenforscher, findet das gut. Allerdings ist er überzeugt davon, dass der Planet Erde in den letzten Zügen liegt. Tochter Cat dagegen hofft auf eine Karriere als Influencerin und legt sich dafür eine Python zu, mit der sie die Zahl ihrer Follower in die Höhe zu treiben gedenkt: „Sie war eine Schlangenlady. Und das war cool, voll cool. Es verlieh ihr eine ganz eigene Identität, und das würde sie von den anderen Influencerinnen unterscheiden, denn wie viele Schlangenladys gab es unter denen?“ Wandel und Gefahren Das ist die scheinbar harmlose Ausgangslage. Doch man ahnt dahinter die drohende Gefahr. Sie geht von Cats Schlange aus, von Coopers Besessenheit, von den vielen Drinks. Die Familie erweitert sich:…
Arno Geiger ist einen langen Weg gegangen, ehe er mit „Es geht uns gut“ 2015 den Deutschen Buchpreis bekam. Der Preis verschaffte dem bis dahin glücklosen Schriftsteller, der sein Geld 16 Jahre lang als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen verdient hatte, die lang vermisste Anerkennung seines Verlags. In seinem neuen Buch „Das glückliche Geheimnis“, weniger ein Roman als eine Art Geständnis, erzählt der Vorarlberger auch davon. Glückliche Sammelleidenschaft Und er enthüllt, was er bisher geheim gehalten hat: Dass er, der lange Zeit „im Zwischenreich der Erfolglosigkeit“ gelebt hatte, seine Einsichten einer Sammelleidenschaft verdanke. Dass er, wie die Buchpreis-Jury lobte, „Vergängliches und Augenblick, Geschichtliches und Privates, Bewahren und Vergessen in eine überzeugende Balance“ bringen konnte, führt Geiger auch darauf zurück, dass er sich als leidenschaftlicher Altpapier-Sammler auch fremde Leben aneignen konnte. Schamhaftes Plündern Ganze Briefkonvolute hat er aus den Altpapier-Tonnen gezogen, Tagebücher, Notizen, weggeworfene Bücher. Sie alle haben ihm Einblicke verschafft, die er in seinen Büchern verarbeiten konnte. Das Plündern der Altpapier-Tonnen, verschämt am frühen Morgen, blieb bis vor kurzem eine Konstante in seinem Leben, gesteht Arno Geiger, ein „glückliches Geheimnis“, für das er sich jahrelang geschämt hat. Rettung aus der Tonne Heute, als erfolgreicher Schriftsteller, kann er dazu stehen –…
Elke Heidenreich ist nicht nur eine interessierte Buchkritikerin, sie ist auch eine engagierte Reisende. Und davon erzählt sie in dem Hörbuch „Ihr glücklichen Augen“ – ganz so, als würde sie sich mit Freunden über ihre Reisen in alle Welt unterhalten. Dass Elke Heidenreich ihre auch in Buchform (Hanser Verlag) erschienen Reise-Erlebnisse selbst spricht, ist ein echter Glücksfall. Macbeth in Schottland Denn so kommen diese Reisen authentisch rüber, man glaubt ihr einfach, dass sie in Schottland auf den Spuren von Macbeth unterwegs war und in Wales auf denen von Dylan Thomas, dass sie sich in Lissabon Fernando Pessoa nahe gefühlt hat, dass sie sich im legendären Hotel Waldhaus im schweizerischen Sils Maria mit Literaten und Künstlern getroffen hat. Kritik am „name dropping“ Der ihr nicht immer wohl gesonnene Literaturkritiker Denis Scheck hat das „name dropping“ im Buch kritisiert. Mag sein, dass die Aneinanderreihung von klugen Zitaten noch klügerer Menschen am Anfang im gedruckten Exemplar nervt – sie tut es, wenn auch in geringerem Maße – auch im Hörbuch. Aber das ist schnell vergessen, wenn Elke Heidenreich von den Landschaften schwärmt, die sie durchwandert, von den Menschen, die sie getroffen hat. Schnoddrig und melancholisch Man hört ihr einfach gern zu, wenn sie…
Bald sind Weihnachtsferien, und dann sind die Tage oft lang. Lesen hilft nicht nur gegen Langeweile. Bücher können Anstoß dafür sein, sich zu engagieren. Sie können aufklären, anregen, unterhalten. Bücher sind die reinsten Wundertüten, wenn man sie richtig nutzt. Und diese Bücher machen neugierigen Kindern und kleinen Leseratten nicht nur an Weihnachten Freude. Das Neinhorn und die Schlangeweile Das Neinhorn von Marc Uwe Kling hat schon jetzt jede Menge kleine Fans. Denn wer kann besser nachvollziehen, wie lustig Neinsagen ist als Kinder? Jetzt gibt es ein neues Abenteuer, in dem zu den vier Freunden NEINhorn, KönigsDochter, WASbär und NahUND die SchLANGEWEILE dazukommt. Auch eine Vertreterin einer Stimmung, die Kinder gut kennen. Wem ist denn nicht mal langweilig? Vor allem in Corona-Zeiten? Doch wozu gibt es Freunde? Gemeinsam ist das Leben gleich viel lustiger – auch für die SchLANGEWEILE. Astrid Henn hat das Abenteuer wieder lustig in Szene gesetzt und sogar eine mehrseitige Panoramaweltsicht dazu gezeichnet. Und für alle, die sich doch mal wieder langweilen, nachdem sie das Bilderbuch mehrmals gelesen haben, gibt es am Ende wieder ein witziges Rätsel mit vertauschten Tieren und dazu noch das „Schleiterspiel“. Da ist mindestens ein vergnüglicher Nachmittag garantiert. Info Marc-Uwe Kling/Astrid Henn. Das NEINhorn…
Wäre es nicht toll, wenn wir verstehen könnten, was Tiere so denken? Evie kann das. Sie hat „die Gabe“, wie ihr Dad und ihre Oma ihr verraten haben. Doch beide wissen, dass diese Gabe tödlich sein kann. Evies Mutter kam im Amazonas-Regenwald ums Leben, weil sie den Tieren dort helfen wollte. Und auch Evies Leben ist in Gefahr. Deshalb bittet ihr Vater sie, möglichst niemandem von ihrem Talent zu erzählen. Außenseiterin in der Klasse Aber wie soll das gehen, wenn ein kleiner Junge, der selbst die „Gabe“ hat, im Löwengehege in Todesgefahr gerät? Evie muss ihm einfach helfen. Dass sie sich damit selbst in Gefahr begibt und außerdem zur Lachnummer in der Schule macht, nimmt sie in Kauf. Längst schon hat sie ihre Freundin Leonora an Instagram verloren. Statt für Tiere interessiert sich Leonora nur mehr für Shoppen und Klicks. Da kann Evie nicht mithalten, sie wird in ihrer Klasse zur Außenseiterin. Wäre nicht der Junge Ramesh mit den langen dunklen Haaren, sie hätte gar keine Freunde mehr. Tödliche Gefahr aus der Ferne Doch alles ändert sich auf einen Schlag. Die Kunde von Evies guter Tat im Zoo ist bis an den Amazonas gedrungen und hat den Todfeind ihrer Mutter…
Vor einem halben Jahrhundert hat Rafik Schami Syrien verlassen. Das Land, aus dem seit Jahren wieder Millionen fliehen. Doch der große Erzähler, der jetzt seinen 75. Geburtstag feiern konnte, trägt sein Land im Herzen. Und im Namen. Bedeutet doch das Pseudonym Rafik Schami doch „Freund aus Damaskus“. Sohn eines Damaszener Bäckers Die Lust am Erzählen hat der promovierte Chemiker wohl schon als Kind in den Gassen von Damaskus aufgesogen, wo er als Sohn eines Bäckers im christlichen Viertel aufwuchs,. Und wie es die Märchenerzähler in alten Zeiten taten, so webt auch er einen großen Erzählteppich aus vielen Mustern, die er übereinander legt. Ausufernde Fabulierfreude Seine oft ausufernde Fabulierfreude macht weder vor der Bibel noch vor dem Tod halt und gibt in einer Fülle von Geschichten immer wieder tiefe Einblicke in die syrische Gesellschaft. „Das Gedächtnis ist eine Stadt mit Gassen und Friedhöfen, mit Wirtshäusern und Gefängnissen – mit allem“, hat er einmal gesagt, oder auch „Die Zeit läuft wie ein Akkordeon.“. Erzählen gegen das Vergessen Ein Hauch von „Es war einmal“ durchzieht sein Werk, liegen doch die meisten Orte, von denen er schreibt, heute in Trümmern. Die Häuser werde man wieder aufbauen, da ist sich der Deutsch-Syrer sicher. „Was mir…
Ludmila Ulitzkaja geht es um die „Pest zu Zeiten der politischen Pest“: Die studierte Biologin erzählt von einer „drohenden Pestepidemie in Moskau 1939, die durch das schlimmste und mächtigste Machtinstrument jener Zeit gestoppt wurde, durch das NKWD, den Geheimdienst der UdSSR.“ Diese scheinbar allmächtige und skrupellose Organisation hat wie eine Krake ihre Fühler überall und sie schreckt vor nichts zurück. Die Menschen sind ihr hilflos ausgeliefert, die Angst um die eigene Existenz zerstört jede Zwischenmenschlichkeit. Brutalität gegen Infektiosität Bei der Bekämpfung der Pandemie erweist sich der Geheimdienst mit seinen brutalen Maßnahmen als effektiv. „Tatsächlich war es damals ausgerechnet der Geheimdienst, der seine einschlägige Erfahrung bei der Verhaftung und „Liquidierung“ von Menschen nutzte, um binnen weniger Tage eine strenge Quarantäne zu organisieren und so eine Epidemie verhinderte“, schreibt Ludmila Ulitzkaja im Vorwort. Und: „So verblüffend es scheint: Die Sicherheitsorgane waren stärker als die Kräfte der Natur. Das bietet Stoff zum Nachdenken…“ Ein Arzt als Held Allerdings: Wie in Camus‘ „Die Pest“ ist es auch hier ein unerschrockener Arzt, der durch seinen selbstlosen Einsatz dafür sorgte, dass sich die Infektionen nicht noch weiter verbreiteten. Das weckt Erinnerungen an den chinesischen Augenarzt Li Wengliang, der frühzeitig vor dem Coronavirus in Wuhan warnte und…