Der Löwe mit dem schiefen Auge
Kinderbücher , Rezensionen / 19. November 2024

Löwenherzen ist das erste Kinderbuch der in Berlin lebenden und im georgischen Tiflis aufgewachsenen Nino Haratischwili. Mit dem Roman „Das achte Leben (für Brika)“ hat die Schriftstellerin  eine große Leserschaft erobert. Die 41-Jährige ist aber auch als Dramaturgin erfolgreich. 2020 schrieb sie  ihr erstes Theaterstück. Löwenherzen wurde in Gelsenkirchen uraufgeführt. Jetzt ist die wundersame Geschichte von Anand und dem Plüschbären mit dem schiefen Auge als Bilderbuch erschienen. Anand und der Brief an Gott Anand lebt in Bangladesch, seine Mutter ist arm und kann ihn nicht zur Schule schicken. Deshalb näht der Junge für den „Chinamann“ Stofftiere. Doch dieser Löwe bringt ihn zum Träumen – von einer Zirkusmanege, in der Anand das Publikum verzaubert und sein Löwe durch einen Feuerreifen springt. Leider nur im Traum. Aber Anand kann mit dem Löwen reden – über seine unerfüllten Wünsche und über seine Mutter, die neun Monate weg sein wird. Und er kann dem Löwen eine Botschaft mitgeben – an den „Herrn Gott in Oropa“. Die näht er in den Löwenbauch. Danach bleibt ihm zu wenig Zeit, um das linke Auge des Löwen richtig anzunähen. Deshalb muss dieser Löwe mit einem schiefen Auge durch die Welt reisen. Der Löwe reist von Kind zu Kind…

Was wäre, wenn…
Rezensionen , Romane / 19. September 2023

Schnell leben kann tödlich sein. Auch das ist eine Lektion des gleichnamigen Romans der Prix-Goncourt-Preisträgerin Brigitte Giraud. Vor 20 Jahren ist ihr Mann Claude mit dem Motorrad tödlich verunglückt, und ihr Leben geriet aus der Spur. Im Roman „Schnell leben“ versucht sie eine Rekonstruktion der Ereignisse, die zu dem Unfall führten. Wer ist schuld? Minutiös rekonstruiert Brigitte Giraud jenen Schicksalstag, an dem sie auf Dienstreise in Paris war und Claude die getunte Honda ihres Bruders ausgeliehen hatte. Wer ist schuld an diesem Unfall, fragt sich die Autorin 20 Jahre danach? Sie selbst, weil sie abwesend war? Ihr Bruder, weil das Unglücks-Motorrad seines war? Claude, weil er es ausgeliehen hatte? Unglückliche Verkettung Systematisch und ganz unsentimental arbeitet Brigitte Giraud in jedem Kapitel einen der Faktoren ab, die womöglich zu der Katastrophe führten. Was wäre wenn, fragt sie, und beginnt beim Kauf des Traumhauses für die Familie. Wenn sie das Haus nicht besichtigt hätte, wenn sie die Schlüssel nicht im Voraus bekommen hätte. Letztlich führt aus Sicht der Autorin eine Verkettung unglücklicher Umstände zu dem Unfall. Das perfekte Leben Nur eines ist sicher: „Das Haus steht im Zentrum dessen, was zu dem Unfall geführt hat.“ Warum musste sie das perfekte Leben der…

Liebe, Krieg und Chaos
Rezensionen , Romane / 21. März 2022

Nino Haratischwili,  der Name ist Garant für eine eher selten gewordene Leidenschaft am Erzählen.  Auch diesmal. Ein Buch, schwer wie ein Backstein, das auch manchmal schwer im Magen liegt. Doch Nino Haratischwilis neuer gewichtiger Roman „Das mangelnde Licht“ ist auch ein Buch, das man kaum aus der Hand legen will, ein mitreißender Roman trotz der allgegenwärtigen Gewalt, von der er – auch – erzählt. Die in Georgien geborene Nino Haratischwili, die schon mit ihrer Familiensaga „Das achte Leben für Brilka“ überzeugt hatte, zeigt sich in diesem Roman über die Umbruchszeit der 1980er und 1990er Jahre wieder als großartige Autorin. Beklemmend aktuell Man könnte ihr vielleicht ihre überbordende Erzähllust vorwerfen, ihre geringe Scheu vor Klischees, Metaphern und der Verwendung von Adjektiven. Aber all das ist marginal angesichts der beklemmenden Aktualität und der spannenden Konstruktion dieses Romans. Es ist eine Fotoausstellung in Brüssel, bei der sich drei der vier georgischen Freundinnen nach Jahrzehnten wieder treffen. Und anhand dieser Fotos nimmt die Ich-Erzählerin, die Restaurateurin Keto die Leser mit in ihre Heimat und in ihre Kindheit in der Hauptstadt Tbilissi. Ein Spiegel der Gesellschaft Aufgewachsen ist Keto mit ihrem nach dem Tod der Mutter geistig stets abwesenden Vater, zwei hoch gebildeten Großmüttern und…

Glücklos zwischen den Welten
Allgemein / 11. November 2021

Bodo Kirchhoff gehört zu den renommiertesten deutschen Autoren und zu meinen Lieblingsschriftstellern. Doch mit seinem „Bericht zur Lage des Glücks“ hat er mich verunsichert. Was soll uns dieser dicke Wälzer sagen, in denen alles aus der Perspektive eines namenlosen, ichbezogenen Mannes erzählt wird? In aller Ausführlichkeit und in oft verschachtelten, schwer lesbaren Sätzen. In einer bedeutungsvoll aufgeladenen Sprache, die vielleicht darauf hindeuten soll, dass der Erzähler Journalist bei einer Kirchenzeitung war. Desillusioniert zwar aber immer noch geprägt von einer Art Sendungsbewusstsein. Rätselhafte Afrikanerin Doch die Sprache und der Stil allein sind nicht mein Problem mit dem Buch. Es geht um den Inhalt. Die Geschichte ist ziemlich vertrackt: Der namenlose Erzähler gabelt auf einer Nostalgie-Reise durch Italien, auf der er seine Trauer über das selbstverschuldete Ende seiner Beziehung mit der Physiotherapeutin Lydia verarbeiten will, eine rätselhafte Afrikanerin auf. Die ebenfalls Namenlose ist aus ihrer afrikanischen Heimat geflüchtet und vertraut sich ihm und seinen Fahrkünsten an. Die Sache mit den Fotos Da weiß der Mann schon, dass es sich bei dieser Afrikanerin um die Frau handelt, von der es keine Fotos gibt. Denn statt der erwarteten Porträts sind aus unerfindlichen Gründen nur Szenen aus ihrem afrikanischen Dorf zu sehen. Ein gefundenes Fressen…

Mexikanische Schattenwelten
Rezensionen , Romane / 8. Oktober 2021

Ich bin mir nicht sicher, ob J.R. Bechtle mit „Der Schatten von Tulum“ einen Abenteuer- oder nicht doch eher einen Fantasy-Roman geschrieben hat. Alles beginnt eher realistisch mit dem deutschstämmigen Investment-Banker Jake Friedman, der im Zenit seiner Karriere steht. Gerade deshalb plagen den Spezialisten für das Mexiko-Geschäft Abstiegsängste. Beflügelt werden sie durch einen milliardenschweren Mexikaner, der Friedman auszutricksen droht. Eine rätselhafte Entführung Doch noch gehören er und seine Frau Sharon zur New Yorker Society. Bis Friedman in Mexiko nach einem heftigen Streit mit seinem Geschäftspartner Opfer einer Entführung wird. Kollegen und Familie vermuten dahinter handfeste geschäftliche Interessen. Auch Friedmann sieht sich lange als Opfer einer Intrige. Der Hippie Harry Simms Doch dann wallen Erinnerungen auf – an eine längst vergangene Episode in Tulum. Damals, als er das Leben noch vor sich hatte. Als er sich Harry Simms nannte, sich als Hippie fühlte und unsterblich in die junge Indigene Rosha verliebte. Als er sich im LSD-Rausch selbst verlor. Erinnerungen an den zerzausten Weisen, der immer wieder seinen Weg kreuzte, an ein Versagen, das er lange verdrängt hat. Zwischen Wahn und Wirklichkeit In der Realität wird dem Entführten klar, dass seine Vergangenheit dabei ist, ihn einzuholen und die Gegenwart dagegen keine Chance…

Familienzusammenführung auf jüdisch
Rezensionen / 7. Oktober 2021

Nach „Mischpoke“ nun also „Schlamassel“. Und wieder taucht Marcia Zuckermann tief in die Familiengeschichte der Kohanim und anderer Juden ein. Am Beginn der turbulenten Verwicklungen, der Tragödien und Dramolette steht John Segall, der mit einem der letzten Kindertransporte nach England entkommen war. 1962 kommt er nach Europa, um eine Mizwa zu erfüllen, eine Sohnespflicht gegenüber seinem von den Nazis ermordetem Vater. Weitläufige Verwandtschaft Auf der Suche nach seinen Wurzeln wird er mit seiner über viele Länder versprengten Mischpoke konfrontiert. Anhand dieser oft skurrilen Charaktere beschreibt Marcia Zuckermann ohne jede Larmoyanz den Leidensweg der europäischen Juden, die den Horror des Dritten Reichs überlebten. Glück und Unglück liegen da schier untrennbar beieinander. Mit jüdischem Witz macht Zuckermann selbst die schlimmsten Erlebnisse der weitläufigen jüdischen Verwandtschaft erträglich. Die Folgen des Holocaust Doch selbst wenn die Vernichtungslager nur am Rand erwähnt werden, sind  der Holocaust  und seine Folgen auch in dieser Familiengeschichte allgegenwärtig. Da ist das Foto mit dem Strick um den Hals des Vaters, das John zu seiner Expedition verpflichtet. Da ist das feindliche Umfeld in England, das den elternlosen jüdischen Kindern das Leben schwer gemacht hat. Da ist die Reise auf dem Seelenverkäufer gen Palästina, die viele Passagiere nicht überlebten. Da ist…

Literarischer Sprengstoff
Rezensionen / 16. März 2021

Véronique Ovaldé ist eine versierte Autorin.  Sie weiß genau, wie sie ihre Leser bei der Stange hält.  Das gilt auch für ihren neuen Roman mit dem etwas sperrigen Titel  „Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln“.  „Sie blickt von ihrer Terrasse auf ein Meer aus Büschen und hohen Kastanien, sie lächelt immerfort, niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln, nicht wahr…“ Der Satz mit dem Titel kommt fast am Ende des Romans, in dem nicht nur gelächelt wird. Das Lächeln als Maske Ein Lächeln könne auch eine Maske sein, sagt die Autorin Véronique Ovaldé. Und Gloria, die alleinerziehende Mutter, die im Zentrum dieses Romans steht, weiß diese Maske zu nutzen. Das hat sie das Leben gelehrt – und so manches mehr. Familienfluch und Mutterliebe Der Roman beginnt damit, dass Gloria ihre Töchter Stella und Loulou mitten aus dem Unterricht abholt und mit ihnen nach Norden fährt, ins Elsass. In einem eher abgelegenen herrschaftlichen Haus hat sie als Kind viel Zeit bei der gefühlskalten Großmutter verbracht. Auch bei der Mutter hat Gloria nie sorgende Liebe gefunden. Diese Lieblosigkeit empfindet sie als Familienfluch. Um dem zu entkommen will sie ihren Töchtern eine perfekte Mutter sein, sie vor allen schlechten Einflüssen und Nachrichten…

Das Mal des Oktopus
Rezensionen / 1. November 2020

Brustkrebs ist kein Thema, mit dem frau gern konfrontiert wird. Als Un-Frau fühlt sich Klarissa, die Ich-Erzählerin, nach der Operation. Sie hat sich gegen Silikon-Brüste entschieden und sich dafür einen Oktopus über die Narben tätowieren lassen: Schutz gegen den Krebs. Zurück nach Ei in den Schoß der Familie Klarissa ist zur Einzelgängerin geworden. Das Filmstudium hat sie aufgegeben, den Freund verlassen. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Burger-Braterin – bis sie ihr Bruder zurück bringt auf die Insel Ei und in das Wirtshaus der Familie. Hier lebt der nach dem Tod seiner Frau und dem der Ersatzmutter „Mammie“ fast verstummte Vater mit dem Bruder und Irina, der Schönen, die irgendwann aus dem Meer auftauchte: „Das fremde, wunderschöne Mädchen, das kein Mädchen und kein Mensch war, verstand kein Wort und fand Mammie sofort sympathisch. Es wurde die Schwester der Tochter des Fischers und des Fischers zweite Tochter und des Sohnes zweite Schwester und Mammies drittes (viertes?) Findelkind.“ Bedrohung durch Windräder und „Zecken“ Doch Ei ist bedroht: Eine Fastfood-Kette, die auch Windräder betreibt, will die Bewohner vertreiben, um noch mehr Windräder zu errichten und womöglich auch noch mehr von den merkwürdigen schwarzen Zecken oder Käfer, die Klarissa entdeckt hat. Wie ein Oktopus, der…

Zwischen Krieg und Frieden
Rezensionen / 6. Januar 2019

Dass der schreibende Volljurist J. R. Bechtle im Rheinland geboren wurde und heute in San Francisco lebt, schlägt sich auch in seinem Roman  „Burgkinder“ nieder, der den Bogen vom Kriegsende in Deutschland bis ins Silicon Valley schlägt. In der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit kreuzen sich die Wege der deutschen Schriftstellerfamilie Fürst und der jüdisch-amerikanischen Unternehmerfamilie Wiseman mehrfach auf schicksalhafte Weise – bis sich mit einem reichlich konstruierten Ende der Kreis schließt. Ein halbes Jahrhundert Familiengeschichte Burgkinder ist eine spannende Familiensaga, die ein halbes Jahrhundert umspannt. Eine Geschichte auch von Hochmut und tiefem Fall, von kleinen Leuten mit großem Herzen, von Helden wider Willen und von ewig Gestrigen. Bechtle schreibt aus unterschiedlichen Perspektiven, überspringt Jahrzehnte und bringt nach einem halben Jahrhundert die Protagonisten des Anfangs noch einmal auf der Burg zusammen, auf der alles seinen Ausgang nahm. Schade nur, dass den Personen die Tiefe fehlt, zu holzschnittartig sind die Charaktere, um ihnen wirklich nahe zu kommen. Ein Fehltritt reicht für ein ganzes Leben Da ist Erika, die Frau, die ohne Skrupel zuerst mit einem SS-Mann und dann mit dem amerikanischen Leutnant schläft, die ihrem heimgekehrten Drogen abhängigen Mann den goldenen Schuss setzt und sich danach durch eine neue Heirat saniert. Und da…

Das Pathos des Krieges
Rezensionen / 6. Januar 2019

Nino Haratischwili neigt zu ausuferndem Erzählen. Das war schon bei ihrem Erfolgsroman „Das achte Leben (für Brilka) so, und es ist bei ihrem vierten Roman nicht anders. „Die Katze und der General“ ist eine ebenso opulente wie verwirrende Geschichte über Krieg und Frieden, Schuld und Sühne. Dass die Autorin, 1983 im georgischen Tblissi geboren und seit 2003 in Hamburg lebend, in ihren „eigenen Textbergen strauchelt“, wie die Zeit schrieb, erklärt sich teilweise aus dem Kulturkreis, aus dem sie stammt. Pirouettenhafte  Wandlungen In Georgien wird gerne fabuliert, überbordend und oft auch überzeichnet. Und diese exzessive Fabulierfreude prägt auch Haratischwilis Erzähl-Duktus. Dass ihr manche Metapher misslingt, dass sie sich hin und wieder stilistisch verstolpert, ist vor diesem Hintergrund eher zweitrangig. Einige abgedroschene Phrasen allerdings hätte das Lektorat durchaus eliminieren können. Dass die Berge den Atem anhalten, die Wanduhr sich zur Zeitbombe wandelt und das Herz Marathon läuft – geschenkt. Schwieriger zu verkraften ist die Tatsache, dass die handelnden Figuren schier pirouettenhafte Wandlungen vollziehen. Eine Tote wird zum Zentrum der Geschichte Der Roman beginnt 1994 in einem kleinen tschetschenischen Bergdorf, wo die 17-jährigen Nura sich in ein anderes Leben träumt. Der Krieg macht den Träumen und Nuras Leben ein Ende. Russische Soldaten vergewaltigen…