„Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“ Was Bert Brecht über seine Schulzeit geschrieben hat, hätte auch William James Sidis unterschreiben können. Der „Held“ in Klaus Cäsar Zehrers Debütroman „Das Genie“ hat die Schulzeit regelrecht durchlitten. Nicht, weil er über- sondern weil er unterfordert war. Denn William James war von seinen Eltern, dem ehrgeizigen und ebenfalls genialen Psychologen Boris Sidis und dessen zur Medizinerin promovierten Ehefrau regelrecht zu einem Genie herangezüchtet worden. Dem Überflieger wurde das Wissen der Welt eingetrichtert Schon im Grundschulalter beherrschte Billy mehrere Sprachen und ließ in Mathematik die Lehrer alt aussehen. Doch der Überflieger, dem schon als Baby das Wissen der Welt eingetrichtert wurde, stößt mit seiner geschwätzigen Besserwisserei seine Mitmenschen vor den Kopf. Rücksichtnahme auf andere hat er nie gelernt, Liebe nie erfahren. Billy ist kreuzunglücklich. Lieber wäre er ein ganz normaler Mensch statt ein Genie: „All diese Leute, dachte William, waren normal, ohne dass es sie Anstrengung kostete. Die Normalität fiel ihnen so leicht wie ihre Muttersprache. Seine Muttersprache war die Außergewöhnlichkeit. Das war der Fluch seines Lebens: Es gab niemanden, mit dem er in seiner Sprache reden konnte.“ Das Genie rebelliert gegen die…
Unsere Gesellschaft wird älter und muss sich eingestehen, dass manche Vorurteile überholt sind. Zum Beispiel, dass alte Leute mit einem Leben am Rand der Gesellschaft zufrieden sind, dass es ihnen genügt, ihre Enkelkinder auf den Knien zu schaukeln. Dass Liebe und Sex endgültig vorbei sind. Die Realität sieht anders aus: Politiker bleiben bis ins hohe Alter aktiv, Kleriker kommen erst ab einem gewissen Alter zu Papst-Ehren und selbst der Normalbürger mischt sich auch als Rentner noch ein. Und selbst die Liebe macht nicht halt vor dem Alter. Aber noch immer grenzt es an ein Tabu, wenn alte Leute sich zusammen und womöglich „es“ tun. Das Unsagbare „in ihrem Alter“! Zwei einsame Alte finden zusammen Kent Haruf hat darüber ein ebenso berührendes wie nachdenklich machendes Buch geschrieben. „Unsere Seelen bei Nacht“ erzählt davon, wie sich zwei einsame Alte zusammenfinden und wie die Gesellschaft alles tut, um sie wieder auseinander zu bringen. Was in der Kleinstadt in Colorado geschieht, könnte ebenso in einem Allgäuer Dorf passieren. Da, wo jede jeden kennt, wo die Fenster Augen und die Türen Ohren haben. Dabei ist die Idee der 70-jährigen Witwe Addie ganz sympathisch. Sie fragt ihren ebenfalls alleinlebenden Nachbarn Louis, ob er nicht ab und…
Er ist sicher einer der bekanntesten Kommissare. Gäbe es ihn wirklich, Guido Brunetti könnte ein Dienstjubiläum feiern. Denn seit 1992 versucht der sympathische Commissario nimmermüde in der Questura von Venedig Heuchlern und Verbrechern das Handwerk zu legen. Pädophile und Sex-Touristen hat er ebenso aufgespürt wie mafiöse Verstrickungen von Immobilienhaien oder Giftmüllskandale aufgeklärt. Und dabei (fast) den Glauben an die Menschheit verloren. Alltagsfrust Denn Urheber vieler Verbrechen oder Skandale sind oft angesehene Bürger der Stadt. Und die meisten kommen am Ende dank ebenso findiger wie skrupelloser Anwälte ungeschoren davon. Hinzu kommt die oft frustrierende Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten, Vize-Questore Patta. Ohne die hilfreiche Präsenz der charmanten und klugen Signorina Ellettra und das meist heile Familienlieben wäre soviel Alltagsfrust unerträglich. Auszeit in der Lagune Kein Wunder also, dass Brunetti nach 25 Jahren einen Zusammenbruch hat. Der ist zwar vorgetäuscht, um einen Kollegen vor einem falschen Schritt zu bewahren. Aber der Commissario merkt schon im Krankenhaus, dass tatsächlich eine Auszeit braucht. Die findet er auf einer kleinen Insel in der Lagune, wo eine Tante seiner Frau ein Anwesen hat. Der wortkarge Verwalter stellt sich als alter Freund von Brunettis Vater heraus, er ist Hobby-Imker und nimmt den Kommissar mit auf seine Streifzüge durch…
„Und so wurden wir ja wirklich das Wüten der ganzen Welt.“ (Koja Solm bei seiner späten Beichte) Ein Monsterbuch, eine monströse Geschichte: Chris Kraus rechnet in „Das kalte Blut“ auf 1200 Seiten mit der jüngeren deutschen Geschichte ab – und er mutet seinen Lesern ganz schön viel zu. Kein Wunder, dass der arme, kranke Hippie, dem der alte Konstantin (Koja) Solm 1974 im Krankenhaus seine Geschichte und die seines Bruders erzählt, fast verrückt wird. Es ist größtenteils keine erfundene Geschichte, die Kraus seinen Protagonisten erzählen lässt, es ist die Geschichte seines Großvaters. Schon in seinem Film „Die Blumen von gestern“ hat sich der Regisseur und Autor bei seiner Familiengeschichte bedient. Zwei Brüder und eine verhängnisvolle Affäre In dem breit angelegten Roman „Das kalte Blut“ lässt er den Großvater selbst zu Wort kommen. Sein alter Ego ist der Deutschbalte Koja, Sohn eines labilen Künstlers und einer stolzen Aristokratin und jüngerer Bruder des Theologiestudenten Hub, der sich zum fanatischen Nationalsozialisten wandelt. Auch Koja wird Nazi, das politische Engagement verbindet die Brüder ebenso wie die Liebe zu Ev, die als angenommene Schwester in der Familie aufwächst und erst spät erfährt, dass sie eigentlich Jüdin ist. Sie heiratet den Älteren und bekommt vom Jüngeren…
In J. Ryan Stradals Roman „Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens“ geht es zwar um eine geniale Köchin und die Kapitelüberschriften weisen allesamt auf Rezepte hin. Trotzdem ist der Titel eher irreführend. Denn Stradal erzählt zwar ausführlich vom Kochen, aber vor allem eine ungewöhnliche Familiengeschichte in der amerikanischen Provinz. Die Frau mit dem absoluten Geschmackssinn Im Mittelpunkt des Buches steht Eva Thorwald, die Frau mit dem „absoluten Geschmackssinn“. Kein Wunder, ihr Vater ist Koch, ihre Mutter eine ausgezeichnete Sommelière. Doch das weiß Eva nicht. Denn die Mutter verlässt die kleine Familie, als Eva noch ein Baby ist, und der Vater stirbt ausgerechnet an Evas ersten Weihnachtsfest. Seine über alles geliebte Tochter wächst bei Onkel und Tante auf und wird zu einer Virtuosin der Küche des Mittleren Westens und bald auch zu einem umschwärmten Star, der mit seinen Pop-up-Dinners jeden Preis verlangen kann und trotzdem ellenlange Wartelisten abarbeiten muss. Kein Wunder, dass auch Evas leibliche Mutter davon hört und alles in Bewegung setzt, um an solch einem Dinner teilzunehmen… In jedem Kapitel ein neuer Blickwinkel 425 Seiten braucht J. Ryan Stradal in seinem Debütroman, um die beiden ungleichen Frauen aufeinander treffen zu lassen. Weil er Evas Geschichte in jedem Kapitel…
Das wäre doch was: Ein lebendiger Spielzeugelefant, noch dazu in rosarot, der in der Dunkelheit leuchtet. Martin Suter, der Schweizer Erfolgsautor mit dem Händchen für aktuelle Themen, konfrontiert die Leser in seinem neuen Roman „Elefant“ mit dem verblüffenden Ergebnis einer Gen-Manipulation. Die kleine Elefantendame verzaubert alle Was so niedlich und harmlos daherkommt, hat einen gefährlichen Hintergrund. Die Möglichkeit, Einfluss auf das Erbgut zu nehmen, könnte skrupellosen Manipulationen Tür und Tor öffnen. Die winzige Elefantendame Sabu, die ihren birmanischen Pfleger Kaung wie ein Gesandter vom Himmel erscheint und die den Obdachlosen Schoch aus seiner Höhle zurück in ein menschenwürdiges Dasein bringt, wäre „ein entzückendes Werbemaskottchen“ für die Harmlosigkeit von Gen-Manipulationen. Gerade das aber wollen der besorgte Veterinär Reber, „Elefantenflüsterer“ Kaung und später auch Schoch und die engagierte Tierärztin Valerie verhindern. Denn Sabu hat sie alle verzaubert. Am Ende wird aus dem Roman ein Märchen Die Rettungsaktion des zwergwüchsigen Wundertiers wird zu einer spannenden Verfolgungsjagd mit einem halben Happy End. Die chinesische Mafia ist involviert und es gibt einen tragischen Unfalltod. „Ein Roman über ein kleines Wunder in einer Welt, in der alles machbar scheint“ heißt es im Werbetext. Suter bietet viel Recherchearbeit auf, um dieses kleine Wunder möglich zu machen, am…
Er weiß, wie er seine Leser dran kriegt, auch wenn er ihnen eine hanebüchene Geschichte auftischt. Leon de Winter ist ein Meister der spannenden Erzählung, und dabei scheut er sich auch nicht, die Realität umzuschreiben. Das gilt besonders für seinen neuen Roman „Geronimo“. Doch diesmal treibt es der Niederländer zu bunt. Denn Winter wagt sich an die Weltgeschichte. Geronimo war das Codewort für die Aktion Bin Laden Geronimo lautete das Codewort für die Aktion Usama Bin Laden, bei der der Gesuchte ums Leben kam. Doch was wäre, wenn die Geschichte lügt? Wenn bin Laden überlebt hätte? Dank eines Komplotts? Das ist die Ausgangsbasis für de Winters Roman. Im Mittelpunkt steht der nicht mehr aktive Navy Seal Tom Johnson. Vorwiegend aus seiner Sicht erzählt Leon de Winter eine Geschichte um Verlust und Liebe, um Verrat und Verantworung, um die Macht der Musik und die Machtspiele der Politik. Zum Gradmesser der Menschlichkeit wird das Mädchen Apana, das über Bachs Goldberg-Variationen Glück erfährt und von den Taliban deswegen verstümmelt wird. Johnson, der Apana mit Bach vertraut gemacht hat, fühlt sich für sie verantwortlich. Aber auch einem anderen wächst die schöne Verstümmelte ans Herz: Usama bin Laden, der hier menschliche Züge zeigen darf, nimmt…
Bruno, Chef de Police in der Kleinstadt Saint Denis, ist so manchem Krimi-Freund schon ans Herz gewachsen. Löst der Genussmensch im schönen Périgord doch mittlerweile auch schon seinen achten Fall. Und das auf gewohnt nonchalante Art mit viel französischem Savoir Vivre. Für Bruno heißt „Leben wie Gott in Frankreich“ vor allem gut essen und trinken, aber auch die Liebe spielt eine wichtige Rolle. Schließlich ist der Chef de Police ein Mann, der die schönen Seiten des Lebens zu schätzen weiß. Bei seinem achten Fall unter dem Titel „Eskapaden“ wäre er beinahe über seine eigene Schwäche gestolpert. Doch Bruno ist zu sehr Polizist, um sich an der Nase herumführen zu lassen. Soweit so gut. Der achte Fall entpuppt sich als ziemlich kompliziert, führt weit in die Vergangenheit zurück und bis hinauf in die hohe Politik. Gorbatschow spielt eine Rolle, Jelzin, Mitterand. Vielleicht hat der Schotte Martin Walker, der auch mal politischer Journalist war und der mit seinen Krimis das Périgord auf die literarische Landkarte gesetzt hat, da etwas zu hoch gegriffen. Der Fall nimmt zwar nach einigen Längen Fahrt auf, aber zwischendurch scheinen dem Autor die Fäden, die er knüpfen will, zu entgleiten. Da ist doch so manches unlogisch und arg…
„Woher etwas kam, war ein wichtiger Teil von Juan Diegos Schriftstellerleben… ‚Das echte Leben ist zu schludrig, um als Modell für gute Fiktion zu taugen‘, hatte Juan Diego gesagt. ‚Gute Romanfiguren sind charakterlich ausgereifter als die meisten Menschen, die wir in unserem Leben je kennenlernen. Figuren in Romanen sind nachvollziehbarer, stimmiger, vorhersehbarer. Romane, sofern sie etwas taugen, sind nicht chaotisch, das wirkliche Leben dagegen schon. In einem guten Roman kommt alles für die Erzählung Wichtige von etwas oder von irgendwoher.’“ In John Irvings neuen Roman „Straße der Wunder“ kommt alles aus der Kindheit im mexikanischen Oaxaca, wo der wissbegierige Junge mit seiner hellseherisch begabten Schwester Lupe auf einer Müllkippe aufwächst – allerdings unter dem Schutz des Müllkippenchefs, der möglicherweise auch Juan Diegos Vater ist. Die Mutter der beiden, eine Prostituierte, die im Jesuitenkloster putzt, stirbt beim Versuch, eine Madonnenstatue zu entstauben, die Schwester beim Füttern eines Löwen. Und Juan Diego wird zum hinkenden Krüppel, weil der Müllkippenchef ihn beinahe überfährt. Der alte Schriftsteller träumt von seiner Kindheit Doch das alles erfährt der Leser erst nach langen Erzählspiralen, die zwischen Kindheit und Alter mäandrieren, weil sich der mittlerweile als Schriftsteller erfolgreiche Juan Diego auf seiner Reise auf die Philippinen in die Kindheit…
Ein bisschen viel Klamauk hat J. Paul Henderson schon hineingepackt in seinen Roadmovie- und Alzheimer-Roman „Letzter Bus nach Coffeeville“. Warum muss der kleine Eric unbedingt einen Fahrradhelm zur Tarnung tragen, obwohl er inzwischen schwarz gefärbte Haare hat? Warum muss der arme Jack wegen seiner Haarpracht fast psychotisch sein? Und die Schokoladen-Besessenheit der Schönheitstänzerin Susan ist auch eher grenzwertig. Dabei wäre die Idee hinter dem Buch auch ohne solche Albernheiten gut genug für eine unterhaltsame Lektüre: Drei Freunde, die sich im Lauf des Lebens aus den Augen verloren haben, finden wieder zusammen, um in einem ausrangierten Tourbus der Beatles quer durch die USA bis in das Kaff Coffeeville zu fahren. Fünf ungleiche Weggefährten Hier will Nancy, die Frau im Trio, ihr Leben beenden, das ihr durch die Alzheimer Krankheit immer mehr entgleitet. Helfen soll ihr dabei ihr ehemaliger Studienfreund Doc, der Arzt, der nach dem Unfalltod von Frau und Tochter (die von einem Riesendonut erschlagen wurden!) zum misanthropischen Einzelgänger mutiert ist. Als er und Nancy noch ein Paar waren, hatte er ihr versprochen, im Notfall für sie da zu sein. Jetzt fordert Nancy dieses Versprechen ein. Und Doc wendet sich um Beistand an seinen schwarzen Freund Bob, mit dem Nancy und er in grauer…