Der verstummte Sänger
Rezensionen / 27. April 2019

Mit der Melodie „Ein Lied geht um die Welt“ wurde der kleinwüchsige Tenor Joseph Schmidt endgültig zum Liebling der Deutschen. Und doch war seiner Karriere ein baldiges Ende beschieden, geriet der Sänger in Vergessenheit. Denn Joseph Schmidt war Jude. Der Mann, der noch 1937 in der Carnegie Hall aufgetreten war, dessen Stimme Millionen rührte, war in Nazideutschland unerwünscht. Keine Gegenwart ohne Vergangenheit Heimatlos wie so viele andere irrte er durch Europa und hoffte auf Asyl in der Schweiz. Aber auch bei den Eidgenossen war der jüdische Emigrant unerwünscht. Schon schwer krank wurde er ins Internierungslager Girenbad überwiesen, wo er an einer Herzschwäche starb. Lukas Hartmann holt den vergessenen Tenor mit seinem Roman „Der Sänger“ ins Rampenlicht – zu einer Zeit, in der wieder einmal über die Beschränkung der Flüchtlingszahlen diskutiert wird und über die Opfer, die der Bevölkerung angesichts der Menge der Immigranten aufgebürdet werden. Der Schweizer Autor, der in seinen Romanen immer wieder zeigt, dass die Gegenwart ohne Vergangenheit nicht denkbar ist, geht dabei mit seinem Heimatland, das sich in der Rückschau selbstgerecht als Bastion der Demokratie feiert, ins Gericht. Nationaler Egoismus verstellte den Blick auf das Elend der Emigranten, man verschloss die Augen vor der Tragödie vor der…

Viel Arbeit für die Liebe
Rezensionen / 17. Februar 2019

Daniela Krien, Jahrgang 1975, hat es mit der Liebe. In ihrem Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ geht es um die amour fou zwischen einer 16-Jährigen und dem 40-jährigen Nachbarn. In ihrem neuen Buch „Die Liebe im Ernstfall“  hat sich die Autorin gleich fünf Frauen vorgenommen, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven über ihre Probleme mit der Liebe   – und mit den Männern berichten. Mann und Kind?  Sex statt Liebe? Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde kennen einander mehr oder weniger gut, als Kinder und Jugendliche haben sie den Fall der Mauer erlebt und genießen nun die Freiheit. Aber sie haben auch Schwierigkeiten mit der Wahl ihres Lebensentwurfs. Mann und Kind? Familie und Beruf? Sex statt Liebe? Beruf statt Familie? Einfach ist das alles nicht, zumal die fünf Frauen durchaus selbstbewusst sind, und ihre Ansprüche haben – auch sexuell. Da denkt die Single-Frau Judith, die je nach Bedarf Männer datet, dass jede Frau einen Mann haben sollte, der „ein wenig wie Christian Grey ist“, und die Buchhändlerin Pauline will durch den Schmerz der Unterwerfung die Trauer um den Tod ihres Kindes vergessen. Brida wiederum, die Schriftstellerin, verliert durch den Alltag mit Mann und Kindern ihre Intuition: „Unversehrt hatte Brida mit…

Paar-Therapie
Rezensionen / 4. Oktober 2018

„Mir ist aufgegangen, dass das alles miteinander zusammenhängt. Wenn man irgendwo einen Stein rausnimmt, fällt gleich alles in sich zusammen. Und dann muss man alles wiederaufbauen, nur diesmal anders.“ Charlotte und Steve haben sich auseinander gelebt, wollen aber ihre Ehe nicht ganz verloren geben und sind deshalb bei der Paar-Therapeutin Sandy. Der vierte Stuhl ist für die Ehe reserviert In dem Raum stehen allerdings nicht nur drei, sondern vier Stühle. Der vierte Stuhl ist für die Ehe reserviert, sagt Sandy. Ihre Methoden, die Ehe ihrer beiden Mandanten zu retten, sind eher unorthodox aber gerade deshalb interessant. John Jay Osborn hat seinen Roman „Liebe ist die beste Therapie“ wie ein Kammerspiel inszeniert. Die Leser sitzen quasi dabei und hören zu, wenn Steve von seinem Seitensprung erzählt und Charlotte den verständnisvollen Bill lobt, der ihr eine große Stütze war, als sie von Steves Untreue erfuhr. Wenn sie über die Zukunft der Kinder streiten und auch von neuen Versuchungen berichten. So als wäre man selbst in Therapie Die Therapeutin wirkt bei diesen Gesprächen wie ein Katalysator, ermöglicht harte Auseinandersetzungen und setzt sich dafür ein, dass sie fair bleiben. Für Charlotte und Steve sind die Sitzungen nicht immer einfach. Trotzdem kommen sie treu und…

Zuviel auf einmal
Rezensionen / 25. September 2018

Mit seinem Roman „Das kalte Blut“ hat der deutsche Filmemacher mit baltischen Wurzeln Chris Kraus der Literaturwelt einen schwer verdaulichen Brocken Vergangenheitsbewältigung hingeworfen. Eine furiose, wütende Abrechnung mit der deutschen (und der baltischen) Geschichte, die nach Kraus‘ Meinung noch lange nicht abgeschlossen ist. Nun legt er mit „Sommerfrauen, Winterfrauen“ nach.  Doch so richtig funktioniert es diesmal nicht. Als Liebes- und Künstlerroman getarnt Zwar spielt diese als Liebes- und Künstlerroman getarnte Geschichte in den 1990er Jahren in New York und ermöglicht die absurdesten Begegnungen in der von der eigenen Vergangenheit trunkenen Szene: „Ich merke: New York manifestiert sich für mich in diesem gefräßigen, milchsaufenden Gargantua, dieser zypklopischen Extunte, mit der ich eine Ruine von Wohnung teile und die all die Schmerzen, all den Wahnsinn, alle Möglichkeiten dieser Stadt verkörpert.“ Zwar philosophiert Kraus‘ Protagonist, der zwischen seiner vietnamesischen Freundin Mah und der quirligen Goethe-Institut-Praktikantin Nele hin und her gerissene Jonas Rosen, über Winterfrauen („Sie wohnt in ewigem Permafrost… Verantwortungsvoll und groß ist sie im Schmieden von kleinen Plänen. Zuverlässig.“) und Sommerfrauen („Sie war gleichzeitig extrem zurückhaltend und völlig ohne Schüchternheit. Ein Rätsel.“). Rosa von Praunheim lässt grüßen Aber auch hier drängt sich eine Episode aus dem Dritten Reich ins Zentrum: Rosen, von…

Brunetti resigniert
Rezensionen / 18. Mai 2018

Bei Donna Leon rechnet man schon lange nicht mehr mit einem deftigen Krimi. Auch Brunettis 27. Fall macht da keine Ausnahme. Ja, es kommt ein Opfer vor. Aber lange wissen weder Brunetti noch die Leser wie der harmlose Buchhalter zu Fall gekommen ist. Der neue Fall reicht bis ins Privatleben Viel mehr Raum als die Ermittlungen in diesem Fall, der noch dazu das Privatleben des Commissario berührt, weil die Frau des Opfers mit Brunettis Ehefrau Paola befreundet ist, interessieren in diesem Buch der Alltag im von Touristen überrannten Venedig, das erstaunlich stabile Privatleben der Brunettis, die Intrigen rund um den Vize-Questore Patta, die Widersprüche in der Gesellschaft oder auch die Rolle der ebenso attraktiven wie rätselhaften Signorina Elettra, deren Schönheit nur vergleichbar ist mir der von Claudia Griffoni, der temperamentvollen Neapolitanerin. Beide Damen übrigens Brunetti herzlich zugetan. Wer versucht hier wen? So könnte der Titel „Heimliche Versuchung“ auch auf mögliche Techtelmechtel des Familienvaters mit einer der beiden Schönheiten hinweisen. Da legt Donna Leon gekonnt eine Fährte, die in die Irre führt. Eigentlich es geht um ganz andere Dinge, oberflächlich banale Unregelmäßigkeiten, die dem Staat viel Geld kosten. Wie entscheidet sich der Staatsdiener Brunetti? Für die Menschlichkeit oder für die Staatstreue?…

Wer war Jack Kerouac?
Rezensionen / 18. Mai 2018

„Für Leser in meinen Alter war Kerouac unsere eigene Stimme, das Sprachrohr unserer Seele, und in meiner Erinnerung bliebt er das bis ans Ende aller Tage – denn was sins Schriftsteller anderes als der Inbegriff der Zeit, in der sie uns begegnen, und das von da an für alle Ewigkeit?“ Er war das Beatnik-Idol, ohne ihn hätte man sich einen Bob Dylan,einen Donovan, wohl nicht vorstellen können: Jack Kerouac hat mit seinem Roman „On the Road“ das Lebensgefühl der Beat Generation eingefangen. Jetzt hat Anthony McCarten mit seinem Roman „Jack“ zugleich eine Annäherung und eine Distanzierung zu und von diesem „King of the Beats“ versucht, der im Alter von 47 Jahren starb – zerstört von Drogen und Alkohol. Gefährlicher Erfolg Der Roman, der Kerouac groß machte, trieb ihn auch in den Untergang. „Unterwegs“, so die deutsche Fassung von „On the Road“ ist autobiographisch geprägt, neben Kerouac selbst treten auch seine damaligen Freunde und Weggefährten auf: Allen voran Neal Cassady als Dean Mariarty. Hinter Carlo Marx wird Allen Ginsberg vermutet, hinter Old Bull Lee William S. Burroughs. Sind diese Romanfiguren tatsächlich identisch mit ihren realen Vorbildern? Eine Frage der Identität Auch Anthony McCarten geht es in seinem Roman vor allem um…

Amour fou in der besten Gesellschaft
Rezensionen / 27. März 2018

Die Geschichte ist filmreif: Die einzige Tochter des mächtigsten Schweizers des 19. Jahrhunderts heiratet den Sohn eines Bundesrats, der mit ihrem Vater verfeindet ist. Dann verliebt sie sich in den Jugendfreund ihres Mannes, einen unberechenbaren Künstler, der ein Bild von ihr malen soll – und brennt schließlich mit ihm durch. Worauf er ins Gefängnis und sie in eine Anstalt gesteckt wird. Wenig später bringen sich beide um. Kein Roman, sondern die die wahre Liebesgeschichte von Lydia Welti-Escher (1858–1891), Tochter des Gotthard-Königs Alfred Escher, und Karl Stauffer-Bern (1857–1891). Die Tragödie aus der Sicht des Dienstmädchens  Lukas Hartmann, der vorzüglich Historisches in Romanform gießen kann, hat daraus einen Roman gemacht, in dem er die Tragödie aus der Sicht des Hausmädchens Marie Louise Gaugler erzählt. Auch dieses Mädchen gab es tatsächlich, wie Hartmann herausgefunden hat. Als 15-Jährige kam Luise in den herrschaftlichen Wohnsitz der Familie Welti-Escher. Das anfangs unbedarfte Mädchen wird zur engen Vertrauten der unglücklichen Millionenerbin, und die beiden so ungleichen Frauen nähern sich einander immer mehr an. Luises Liebe ist der Gegenentwurf zu Lydias Leidenschaft Auch Luise lernt die Liebe kennen, verzichtet aber aus Treue zu ihrer Arbeitgeberin lange Zeit auf deren Erfüllung. Erst nach dem Tod Lydias heiratet sie ihren…

Road Movie für Heavy Metal Fans
Rezensionen / 21. Januar 2018

Das muss man dem Franzosen Grégoire Hervier schon lassen. Er versteht sein Handwerk und hat sein Thema gründlich recherchiert. Der Roman „Vintage“ dreht sich um Kult-Gitarren und lädt zu einer Zeitreise bis zu den Anfängen der Blues- und Rockmusik, die Hervier bis in die 1920er Jahre zurückdatiert. Das Ganze verpackt in eine kriminalistische Spurensuche, die den Helden, einen mäßig erfolgreichen Pariser Musikstudenten und Journalisten namens Thomas Dupré, über den großen Teich und bis nach Australien führt. Eine Prise Okkultismus und schwarze Magie Der ohnehin schon spannende Roadtrip wird durch Anspielungen auf Okkultes und finstere Machenschaften noch aufregender: „Ich war auf der Suche nach der wertvollsten Gitarre aller Zeiten, einem fluchbeladenen Instrument, das hervorbrachte, was so manchen als Musik des Teufels galt.“ Auch der Auftraggeber dieser Suche, ein angeblicher Lord Winsley, der in einem Landhaus wohnt, das Jimmy Page von Led Zeppelin gehört und in dem der schwarze Magier Aleister Crowley eine Zeitlang als Laird of Boleskine residiert hatte, ist eine zwielichtige Figur. Doch sein Auftrag, den verschollenen Prototyp der „Moderne“, eine wertvollen Gitarre aus dem Hause Gibson, zu finden, ermöglicht Thomas nicht nur eine Weltreise, sondern macht es ihm auch möglich, in die Gründungsmythen der Rockmusik einzutauchen. Der Mythos der…

Vorbei gelebt
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Vier Jahre am Fließband die Drehmaschine überwachen und weitere achtundzwanzig auf einem Gabelstapler – das bin ich… Ein Roboter, kein Mensch. Ein mechanischer Arm, kein Herz.“ Der Ich-Erzähler ist ein älterer Mann, der sein Leben verpasst hat – zuerst in der Fabrik, dann im Gefängnis. Wie es dazu kam, davon erzählt Marco Balzano in dem Roman „Das Leben wartet nicht“. Eine Kindheit in extremer Armut Alles beginnt Ende der Fünfziger Jahre in einem sizilianischen Dorf, wo der kleine Ninetto, so heißt der Erzähler, aufwächst, in extremer Armut. Den Spitznamen Pelleossa, Haut und Knochen, behält er sein Leben lang. Der Kleine ist ein guter Schüler, er hätte womöglich eine bessere Zukunft vor sich; aber nach dem Schlaganfall seiner Mutter schickt ihn der gewalttätige Vater nach Mailand, um Geld zu verdienen. Nach der Strafe ist das Leben ein anderes  Der Bub wurstelt sich so durch, geht mit 15 in die Fabrik, heiratet und wird Vater einer Tochter. Jahre später bringt ihn ein unglücklicher Zwischenfall ins Gefängnis. Als er seine Strafe abgebüßt hat und wieder frei kommt, erkennt er, dass das Leben nicht auf ihn gewartet hat. Seine Tochter hat den Kontakt mit ihm abgebrochen, die Enkelin kennt ihn nicht einmal. Das bittere…

Die Verständnisvolle
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.“ Was die Mutter über die kleine Olga gesagt hat, könnte auch für die erwachsene und später die alte Olga gelten. Und doch ist diese scheinbar so angepasste Olga eine starke Frau, eine Frau, die sich durchsetzt gegen alle Widrigkeiten. Olga will nur ihren Herbert  Eine einzige große Liebe gibt es in ihrem Leben: Herbert, der Sohn des Gutsherrn. Die Verbindung ist aussichtslos, denn Olga kommt aus armen Verhältnissen und Herberts Eltern würden sie nie als Schwiegertochter akzeptieren. Und doch überlebt diese Liebe, denn Olga lässt Herbert seine Freiheit und seine Abenteuer, ja sie lässt ihm auch seinen „Herrenstolz“, will nichts wissen vom Schlachtfeld in Namibia und dem Mord an den Herero, will nur ihren Herbert, sein Strahlen, seine Begeisterung. Die Heldenträume enden in der NSDAP Doch dann bricht Herbert auf zu einer Expedition ohne Wiederkehr, und Olga bleibt mit ihren Erinnerungen zurück – und mit dem kleinen Eik, dem sie Herbert als Helden präsentiert – so lange, bis der Junge selbst Heldenträume träumt und in die NSDAP eintritt – gegen Olgas Wunsch und Vorstellung. Aber sie hat bald ohnehin nichts mehr zu sagen, verliert nach einem Fieber ihr Gehör und…