Fingerzeit im Reschensee
Rezensionen / 3. August 2020

Der Mailänder Marco Balzano ist einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Sein Roman „Das Leben wartet nicht“ wurde mit dem Premio Campiello ausgezeichnet. Mit seinem neuen Buch „Ich bleibe hier“ hat sich der 42-jährige Italiener Südtirol zugewandt. Der aus dem Reschensee aufragende Kirchturm, der für viele Touristen einen Fotostopp wert ist, hat Bolzano nachhaltig beeindruckt und zu einem Roman inspiriert, der mehr noch als eine berührende Familiensaga eine Lektion in europäischer Geschichte ist. Ein Ort, den es nicht mehr gibt „Ich hatte die Idee, das hervorzuholen, was im Wasser versunken ist“, schreibt der Autor in seinen Anmerkungen. Versunken ist das Bergdorf Graun, in dem die junge Lehrerin Trina vor dem Zweiten Weltkrieg lebt – unter erschwerten Bedingungen. Die Ich-Erzählerin Trina beschreibt die Probleme in Aufzeichnungen für ihre Tochter Marica, die Graun und der Familie den Rücken gekehrt hat: „Ich werde dir berichten, was sich hier in Graun abgespielt hat. An dem Ort, den es nicht mehr gibt.“ Die Geschichte von der Option Trinas Schwägerin und ihr Mann hatten Marcia bei Nacht und Nebel mit nach Deutschland genommen. Sie gehörten 1939 zu den sogenannten Optanten. Das waren Südtiroler, die sich für die Auswanderung ins „Deutsche Reich“ entschieden hatten. Trina und ihre Familie…

Am Ende eines Lebens
Allgemein / 15. Juli 2020

Kent Haruf, 1943 als Sohn eines Methodistenpfarrers geboren, hat sechs Romane geschrieben und sie alle in der  fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado angesiedelt. Hier hat  der amerikanische Autor alles konzentrierte, was für ihn amerikanische Lebensart ausmachte – die guten wie die schlechten Seiten. Sein letzter Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ wurde mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt. „Benediction“ (Segen) nannte er seinen vorletzten, der 2013 in den USA veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Kostbare Tage“ ist er jetzt auf Deutsch erschienen. Der Sterbende will sein Erbe bestellen Dad Lewis hat Krebs. Er ist 77 Jahre alt und weiß, dass er sterben wird.  Kostbare Tage wird er vielleicht noch erleben. Dafür wollen seine Frau Mary und seine Tochter Lorraine sorgen. Nur der schwule Sohn fehlt. Das Zerwürfnis mit dem reaktionären Vater hat Frank aus dem Haus getrieben. Nun, in seinen letzten Tagen, würde Dad es gerne wieder gut machen. Auch andere Erinnerungen drängen in sein Bewusstsein. Der Eisenwarenhändler will sein Erbe bestellen. Die Frauen halten die Welt zusammen Aber es scheint, als würde nicht nur Dads Persönlichkeit sich allmählich auflösen, auch die Welt um ihn herum scheint zu zerfallen. Der neue Pastor wird aus der Kirche gejagt, weil er von…

Bella Ciao: Gegensätzliche Welten
Rezensionen / 10. Juni 2020

Der Roman „Bella Ciao“ von Raffaella Romagnolo führt die Leser zurück in die italienische Geschichte, in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg, und begleitet sie über gut 40 Jahre bis zum Ende des 2. Weltkriegs. Die italienische Autorin erzählt die Geschichte zweier Freundinnen, die durch ein Missverständnis getrennt wurden. Die eine, Giulia, beginnt in Amerika ein neues Leben. Die andere, Anita, bleibt zurück, heiratet die Liebe ihres Lebens, bekommt einen Sohn und verliert ihre beiden Männer, den einen an der Front, der andere wird von einem Faschisten erschlagen. Zu viel Leid für ein Leben Fast zu viel Leid für ein Frauenleben, und trotzdem kämpft sich Anita durch – auch dank des Zusammenhalts der ganzen Familie. Giulia dagegen, schwanger von dem Mann, den Anita heiraten wird, findet im Inhaber eines Lebensmittelladens einen treu sorgenden Ehemann. Libero wird auch dem Sohn ein guter Vater. Das Geschäft expandiert, und Giulia erlebt fette Jahre, während Europa im Krieg versinkt. Erinnerungen an gemeinsame Zeiten Und dann kehrt sie als wohlhabende Witwe auf einer Europareise zurück ins Borgo, von dem sie aufgebrochen war, weil sie sich von ihrer Freundin verraten fühlte. Erinnerungen werden wach an die gemeinsame Zeit mit Anita, an den Mann, den beide liebten,…

Venedig schwitzt, Brunetti resigniert
Rezensionen / 30. Mai 2020

Geheime Quellen können sich auf Wasserzuflüsse beziehen aber auch auf illegale Geldzuflüsse.  Womöglich auch auf beides wie in Donna Leonas neuem Roman mit dem Titel Geheime Quellen.  Es waren noch nie Hau-Drauf-Krimis, bei Donna Leon und ihrem Commissario Brunetti geht es eher um die gesellschaftlichen Hintergründe, die zu Missständen und womöglich auch zu Morden führen. Das ist bei Brunnettis 29. (!) Fall  nicht anders. Eine Todkranke und ein Versprechen Lange ist sogar unklar, ob es sich beim Tod von Vittorio Fadalto nicht doch um einen Unfall gehandelt hat und nicht um einen Mord, wie seine todkranke Frau annimmt. Ihr hat Brunetti versprochen, sich um den Fall zu kümmern. Doch das scheint nicht zu eilen. Denn lange geht es in dem Roman eher um die Hitze, die sich im überlaufenen Venedig staut, um Durst und Wassernotstand, um Umweltsünden und Brunettis Amtsmüdigkeit. Nur der Vize-Questore ist relativ unbeeindruckt von der Hitze, die seinen Mitarbeitern alle Energie aus den Knochen zu saugen scheint. Kein Wunder, Patta hat eine Klimaanlage, von der auch die kluge Signorina Elettra profitiert. Wasser ist ein wichtiges Gut Wie immer ist sie Brunetti bei seinen Recherchen eine große Hilfe, und so stößt er beinahe nebenbei auf eine Vergiftung des…

Das Schicksal ist ein Hütchenspieler
Rezensionen / 14. April 2020

Sasha Filipenko, 1984  in Minsk geboren,  hat sich als junger Autor  an ein großes Thema gewagt,  den Stalin-Terrror.  Bewältigt hat er das heute wieder heikle Thema auf eine sehr originelle Weise:  Alexander ist gerade in das Haus in Minsk eingezogen, da lauert ihm die alte Nachbarin auf. Was für eine aufdringliche alte Hexe, denkt der junge Mann aufgebracht. Und doch lässt er sich von Tatjana, so heißt die von Alzheimer Neunzigjährige, in ihr Leben hineinziehen. Ein Leben, geprägt von Leid und Gewalt. Denn, weil Tatjanas Mann in Kriegsgefangenschaft geriet, musste sie um ihr Leben und das ihrer Tochter fürchten – auch wenn sie seinen Namen durch den eines anderen ersetzte. Kriegsgefangene als Landesverräter Dass Kriegsgefangene unter Stalin als „verwerfliche Deserteure“ zu betrachten und ihre Familien „als Angehörige von eidbrüchigen und landesverräterischen Fahnenflüchtigen zu verhaften“ waren, hat Sasha Filipenko zu seinem Roman „Rote Kreuze“ inspiriert. Auch Tatjana entgeht nicht der Verhaftung, sie wird von ihrer Tochter getrennt und tagelang verhört und vergewaltigt. Am Ende landet sie in einem menschenunwürdigen Lager wie Solschenizyns „Gulag“. Nur der Gedanke, irgendwann doch noch Mann und Tochter wiederzusehen, hält sie am Leben – und der Wunsch, sich bei dem Mann zu entschuldigen, dessen Namen sie anstelle…

Eine Kakerlake als Premier
Rezensionen / 6. Dezember 2019

Ich schätze Ian McEwan und ich schätze auch sein Engagement gegen den Brexit. Aber ich fürchte, mit seinem mit heißer Nadel gestrickten Roman „Die Kakerlake“ hat er sich keinen Gefallen getan und seiner Sache auch nicht. Und leider hat sich der sonst so besonnene Autor auch noch an Kafka vergriffen. Die Minister teilen die Herkunft des Premiers Denn in seinem Mini-Roman wird eine Kakerlake zum britischen Premier. Und nicht nur das: „Fast jeder im Kabinett teilte seine Ansichten. Weit wichtiger aber – und bis zu diesem Augenblick hatte er nichts davon geahnt – sie teilten seine Herkunft“. Premier Jim Sams (nach Kafkas Gregor Samsa) hat also freie Hand für sein unsinniges Unterfangen, die Geldströme einfach umzudrehen: „‘Wider den Strom!‘ lautete einer der vielen unwiderstehlichen Slogans“ des Reversalismus, denen nur der Außenminister widersteht. Kein Problem für Jim Sams. Eine MeeToo-Kampagne löst auch dieses Problem. „Nichts war so befreiend wie ein engmaschiges Lügennetz. Deshalb also wurden Menschen Schriftsteller.“ Festmahl für das Kakerlaken-Kabinett Der Schriftsteller McEwan braucht für sein Romanchen vier Kapitel. „Ein überlanger Witz“, kritelte der „Telegraph“ in Anspielung auf die grotesken Überzeichnungen im Buch, in dem auch Trump eine Rolle zukommt. Als Präsident Tupper hätte er gerne den Reversalismus als seine…

Sprung ins Ungewisse
Rezensionen / 8. Oktober 2019

Simone Lappert hat ein Faible für Menschen, die anders sind. Das prägte schon ihren Erstling „Wurfschatten“. Auch die Protagonistin ihres neuen Romans Der Sprung, Manu, kommt mit dem normalen Alltag nicht zurecht, grenzt sich selber aus. Mit Finn, dem Fahrradkurier, ist das anders, den kann sie lieben, solange er nicht zu neugierig ist. „Das mag ich nicht, wenn du mich so ansiehst,“ sagte sie. „So in mich rein. Warum müssen mich nur ständig Leute so ansehen, so seltsam. Als wäre meine Biographie ein Dachboden, auf dem man herumwühlen und interessante Sachen finden kann.“ Der Sprung und die Gaffer Und dann ist es Manu, die alle diese Leute in Atem hält, weil sie auf dem Dach steht und zu springen droht. Simone Lappert hat ein paar von ihnen herausgepickt und betrachtet sie näher: Die verbitterte Witwe, die die Polizei ruft und damit das Drama erst in Gang setzt. Das alte Ehepaar mit dem traurigen kleinen Laden, der seine besten Zeiten hinter sich hat und der plötzlich brummt, weil die Frau auf dem Dach die Gaffer anzieht. Die Schülerin, die sich aus ihrer Rolle als Mobbingopfer befreien will. Die zweifach betrogene Frau, die ihr Leben neu planen muss. Der menschenfreundliche Obdachlose. Die…

Ein Mann für jeden Tag
Rezensionen / 8. Oktober 2019

Dror Mishani weiß,  wie Spannung geht.  Auch in seinem neuen Roman „Drei“, der gar nicht als Krimi firmiert.  Was Orna fühlt, wird die Leser die nächsten 250 Seiten lang begleiten:  „Die Angst, die ihr in jener Nacht die Kehle zudrückte, war so stark wie an dem Tag, an dem sie Gil mit seiner Frau begegnet war, und auch die Wut war dieselbe, was sie abermals denken ließ, dass sie auch an jenem Tag im Grunde auf Ronen böse gewesen war und nicht auf Gil; dass auch ihre Beklemmung nicht unmittelbar mit Gil zusammenhing und damit, dass er sie belogen hatte, sondern mit dem, was diese armselige Beziehung über ihr Schicksal und ihr Leben besagte.“ Die Erwartungen sind nicht allzu hoch Orna ist frustriert, seit ihr Mann Ronen sie und ihren Sohn Eran für eine Frau verlassen hatte, die eigene Kinder mit in die Verbindung brachte. In Gil hatte sie gedacht, einen Ersatz zu finden. Der Mann sieht zwar nicht besonders gut aus, ist auch nicht besonders charmant, aber zuverlässig und eher unaufdringlich. Durchschnitt eben, ein Mann für jeden Tag. Aber was konnte eine Frau wie Orna denn schon erwarten? Frauen voller Lebenshunger In drei Kapiteln erzählt der israelische Autor Dror…

Brunetti und die letzten Dinge des Lebens
Rezensionen / 3. Juli 2019

Donna Leon ist inzwischen 76, und sie lebt schon seit geraumer Zeit nicht mehr in Venedig. Wie alt ihr Commissario Guido Brunetti ist, weiß man nicht so recht. Auf jeden Fall löst er in diesem Buch seinen 28. Fall. Aber in der Familie Brunetti und im Polizeipräsidium scheint die Zeit still zu stehen. Die Kinder leben immer noch zu Hause, der Vize-Questore ist immer noch kein einfacher Vorgesetzter und die schöne Signorina Elettra ein hilfreicher Engel mit digitaler Allwissenheit. Es geht um Väter und Söhne Und doch ist etwas anders in diesem Krimi mit dem Titel „Ein Sohn ist uns gegeben“. Es geht um Väter und Söhne, leibliche und angenommene und vor allem darum, dass ein Freund von Brunettis adligem Schwiegervater vor einer Dummheit bewahrt werden soll: Der alternde Gonzalo Rodriguez de Tejeda will seinen jungen Liebhaber adoptieren und zum Alleinerben einsetzen. Das Szenario nutzt Donna Leon für einen – nostalgischen  – Blick zurück in die Vergangenheit des Conte und seiner Freunde. Der schwule Spanier Gonzalo war von seinem Vater verstoßen worden, er hatte in Lateinamerika ein Vermögen gemacht und dort auch Freunde gefunden. In seiner Wahlheimat Venedig wurde der distinguierte Spanier auch zum Vertrauten Brunettis und seiner Familie –…

Literarisches Labyrinth
Rezensionen / 23. Mai 2019

„Ich kann dir alles verzeihen, nur nicht, dass du stotterst,“ sagt eine der alten Frauen, die „Der Stotterer“ in dem gleichnamigem Roman von Charles Lewinsky  mit dem Enkeltrick hereingelegt hat. „Von einem Stotterer kann man nicht träumen,“ resümiert der Mann, der in diesem Buch sein Leben erzählt. Dieser Johannes Hosea Stärkle kann zwar keinen geraden Satz sprechen, dafür fließen ihm die Worte beim Schreiben geradezu aus der Feder. Der Stotterer leidet an Schreib-Loghorroe, einer krankhaften Geschwätzigkeit. Vom Stotterer zum Bestseller-Autor Er schreibt nicht nur sein Leben auf – in Briefen an den „Padre“, wie er den Gefängnispriester nennt, und in einer Art Tagebuch. Nein, er erfindet auch Geschichten als eine Art „Fingerübung“ und beteiligt sich an einem Schreibwettbewerb. So erfolgreich, dass er zum Bestsellerautor werden könnte. Wobei auch diese Karriere einer großen Intrige zu verdanken ist, denn der Stotterer ist ein Meister der Manipulation. Mit seinen Briefen hat er den Padre dazu gebracht, ihm einen Job in der Bibliothek zu verschaffen, wo er zum Drogenkurier eines Mafia-Advokaten avancierte und später zum Schreiber fingierter Liebesbriefe. Darin war er schon als Schüler ein Meister.  Er weiß um die Macht des Wortes,  und er  hat keine Skrupel, davon zu profitieren. In der Grauzone…