Papyrus ist ein Buch über Bücher. Und was für eines! Fabelhaft! Die Spanierin Irene Vallejo erweist sich mit „Papyrus“ als versierte und wortmächtige Anwältin des gedruckten Buches. Ihre über 700 Seiten dicke Geschichte der Welt in Büchern beginnt im 3. Jahrhundert vor Christus mit der Weltbibliothek von Alexandria und endet mit der Absetzung des letzten römischen Kaisers Romulus Augustus im Jahr 476 nach Christus. Vom Papyrus zum E-Book Dazwischen hat Irene Vallejo viel Zeit und Gelegenheit für Anekdoten, Rekurse auf historische Quellen, Ausflüge in die Gegenwart, ja sogar Kriminalgeschichten. Immer geht es um das Überleben der Worte, ob auf Stein, Ton, Schild, Leder, Holz oder Papier. Es war ein weiter Weg vom gerollten Papyrus der Ägypter über das Pergament der Griechen bis zum E-Book und den Graffiti. Fesselnd wie ein Abenteuerroman Irene Vallejo erzählt eine Überlebensgeschichte so fesselnd wie ein Abenteuerroman: „Das Buch hat sich im Laufe der Zeit bewährt, es hat sich als Langstreckenläufer erwiesen. Wann immer wir aus dem Traum der Revolutionen oder dem Alptraum der Katastrophen erwachten, war das Buch noch da. Es ist, so sage Umberto Eco ‚ein technisch vollendetes Meisterwerk‘.“ Eco ist nicht der einzige Literat, auf den sich Vallejo bezieht, unter anderen treten…
Andrej Kurkow ist Ukrainer, und das Schicksal der Ukraine liegt ihm am Herzen. Jetzt hat er einen historischen Kriminalroman geschrieben, der 1919 spielt, „weil die Situation damals der heutigen in der Ukraine sehr ähnelt“, wie er dem Spiegel verriet. „Samson und Nadjeschda“ ist keine Liebesgeschichte, eigentlich auch kein Krimi und auch kein historischer Roman, eher alles zusammen und eine Art Schelmenroman dazu. Zufallsopfer der Umbruchszeit Denn dieser Samson, ein studierter Maschinenbauer, wird durch einen unglücklichen Zufall zu einem erfolgreichen Ermittler in der Miliz. Rotarmisten haben auf offener Straße seinen Vater erschlagen und ihm das rechte Ohr abgetrennt. Die beiden gutbürgerlichen Männer sind Zufallsopfer einer brutalen Umbruchszeit. Die russische Revolution hat Horden von Banditen nach Kiew gespült, die der Stadt und den Bewohnern zusetzen. Das talentierte Ohr Doch Samson hat Glück, auch wenn der Augenarzt das Ohr nicht mehr annähen kann. Das in einer Dose aufbewahrte Organ rettet ihm das Leben und wird zum Schlüssel seiner Karriere. Denn wundersamerweise hat das Ohr das Talent eines Abhörgeräts: Es hört mit. Schräge Dialoge, wirre Konversationen aber auch das, was die bei Samson einquartierten Rotarmisten planen, die so eifrig große Säcke in Samsons Wohnung schleppen. Ein Schneider als Opfer Irgendwie geht es dann auch…
Klaus Cäsar Zehrer hat ein Faible für alte Fotos. Doch der Wahlberliner ist nicht nur Sammler, sondern auch Kulturwissenschaftler und freier Autor. Wobei er auch da ein Faible hat – für Komik und Kurioses. In dem Buch „Das schreckliche Zebra“ hat Klaus Cäsar Zehrer die Gelegenheit genutzt und die beiden Faibles zusammengebracht. Bilder-Buch der anderen Art Entstanden ist ein Bilder-Buch der anderen Art, Fotos und ihre Geschichten. Von dem „kleinen Blick in vergangene Leben“ ließ sich der Autor zu frei erfundenen Geschichten anregen, machte sich sein eigenes Bild. Das hat so gut wie nichts mit dem ursprünglichen Hintergrund der Fotos zu tun, den ja Klaus Cäsar Zehrer auch nicht kennt. Und doch erwecken seine Parodien und Gedankenexperimente, weckt seine Sprachakrobatik und Fabulierfreude die vergilbten Fotografien aus vergangener Zeit zu neuem Leben. Eigenwillige Interpretation In einem englischen Text räsoniert ein amerikanischer Tourist nach einem Oktoberfest-Besuch über die Deutschen und die deutsche Gemütlichkeit. Und in dem Kapitel „Jonas und die Ganofen“ träumt sich der Schüler Jonas mit einer sehr eigenwilligen Interpretation deutscher Rechtschreibung in eine ebenso eigenwillige Heldengeschichte. Sagen Sie liberia! In der titelgebenden Geschichte parodiert Klaus Cäsar Zehrer eine biedermeierliche Anmache durch einen als Zebra verkleideten Mann , wobei er Afrikanisches regelrecht…
Moritz Heger hat neben Germanistik und Theaterwissenschaften auch evangelische Theologie studiert. Das spürt man in seinem Roman „Aus der Mitte des Sees“, in dem es um eine Lebensentscheidung geht. Bisher hat Lukas seine Entscheidung, Mönch zu werden, nie hinterfragt. Aber nun hat sein Mitbruder und Freund Andreas geheiratet und ist Vater geworden. Lukas fühlt sich allein gelassen in der großen Benediktiner-Abtei, in der außer ihm nur noch alte Mönche leben. Suche nach Klarheit Auch Lukas ist mit Ende 30 nicht mehr jung. Was ist mit seinem Leben? Er hadert mit dem Freund und dessen Entscheidung. Wie konnte Andreas das Kloster, ihr gemeinsames Zuhause, verlassen? Wie konnte er sich draußen ein neues Leben aufbauen? Schwimmend im See versucht Lukas, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Er liebt es, sich vom Wasser tragen zu lassen, fühlt sich dabei geborgen wie in Gottes Hand. Der See und Sarah Doch dann taucht Sarah auf, auch sie eine Schwimmerin. Und Lukas entdeckt viele Gemeinsamkeiten. Er fühlt sich zu der fremden Frau hingezogen und will trotzdem dem Klosterleben nicht entsagen. Zumal ihn die Mitbrüder drängen, gemeinsam mit einem Älteren die Leitung des Klosters zu übernehmen. Moritz Heger dringt in seinem Roman „Aus der Mitte des Sees“ tief…
Doris Dörrie ist bekannt als erfolgreiche Regisseurin und Drehbuchautorin. Aber sie hat sich auch als Schriftstellerin einen Namen gemacht. Ihr neues Buch heißt „Die Heldin reist“ und beginnt so: „Im Jahr 2019 bin ich in die USA, nach Japan und Marokko gereist. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass es für längere Zeit die letzten Reisen gewesen sein sollten.“ Mythos Heldenreise Auf 240 Seiten beschäftigt sich Doris Dörrie dann mit dem Mythos der Heldenreise, der bis heute männlich geprägt ist. Was aber ist, wenn Frauen reisen, fragt sich die Autorin. Werden sie auch zu Heldinnen, wenn sie Abenteuer bestanden, Krisen bewältigt haben? Abenteuer und Krisen hat Dörrie bei ihren vielen Reisen so einige bestanden – auch wenn sie sich nicht freiwillig exponiert hat. Sie hat einen Beinahe-Absturz überlebt, Anfeindungen, Belästigungen. „Ich bin nur gereist“ Ist sie deshalb schon eine Heldin? Nein, sagt Dörrie am Ende des Buches: „Ich bin keine Heldin, ich bin nur gereist.“ Und das leidenschaftlich gern. Auch wenn sie so manche Show durchschaut wie etwa in Marrakesch. Der Bucket-List-taugliche Djemaa al Fna ist für sie „eine erschöpfte Inszenierung all dessen, was der Tourist erwartet“. Touristin und Vielreisende Und als Vielreisende weiß sie auch, dass ihre Neugier auf…
Ui, da hat Joachim B. Schmidt den Schweizer Nationalhelden Tell ganz schön zerzaust. Ein armer Bergbauer ist sein Tell, der so gar nichts von Schillers Heldenmut hat. Erzählt wird die Anti-Heldengeschichte von einem Chor von Zeitzeugen. Darunter auch von Walter, dem Sohn, dem Wilhelm Tell auf Befehl des habsburgischen Reichsvogts Gessler den Apfel vom Kopf schießen muss. Desolate Lebensverhältnisse Der Schweizer Schmidt nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Erzähler die desolaten Lebensverhältnisse der Bauern beschreiben lässt, die Kleingeistigkeit in den engen Tälern. Nichts da von politischer Aufmüpfigkeit oder einem „einig Volk von Brüdern“. Nur ein täglicher Kampf ums nackte Leben und gegen eine Diktatur, die selbst die armseligste Existenz durch immer neue Schikanen bedroht. Der Gegenspieler von Tell Ja, auch der Gesslerhut spielt seine Rolle, aufgesteckt, um das dumpfe Bauernvolk Mores zu lehren. Der Harras hatte die Idee, Gesslers Sicherheitschef. Ein bösartiger Intrigrant ist das bei Schmidt und ein gemeiner Leuteschinder. Die Bauern verachtet er genauso wie den Reichsvogt, seiner Meinung nach ein verweichlichtes Bürschlein. Schmidt macht ihn zum eigentlichen Übeltäter und damit zum Gegenspieler Tells. Harras verkörpert die dunkle Seite der Macht, ein echter Kotzbrocken. Schwacher Reichsvogt Im Gegensatz zu ihm ist Schmidts Gessler durchaus zu…
Sasha Filipenko, geboren in der belarussischen Hauptstadt Minsk, weiß, was Andersdenkenden im russischen Einflussgebiet droht: „Die Universität, an der ich in Minsk studiert habe, wurde von Lukaschenko geschlossen. Das Institut der freuen Künste und Wissenschaften, an dem ich daraufhin in Russland studiert habe, wurde von Putin geschlossen. Der unabhängige TV-Sender Doschd, bei dem ich gearbeitet habe, gilt heute als ausländischer Agent.“ In seinem neuen Roman „Die Jagd“ hat er persönliche Erlebnisse ebenso verarbeitet wie Erfahrungen von Kollegen. Herausgekommen ist ein Buch von beklemmender Aktualität gerade in Zeiten russischer Großmachtsbestrebungen. Im Fadenkreuz der Mächtigen Im Fadenkreuz der Mächtigen steht der aufrechte Journalist Anton Quint, ein junger Familienvater. Lange glaubt er daran, mit seinen Posts und Recherchen die Welt um sich herum zum Besseren verändern zu können. Quint zieht in den Kampf gegen die Korruption wie einst Quichotte in seinen gegen die Windmühlen. Das Leben wird zur Hölle Doch das System schlägt zurück, erbarmungslos. Der korrupte Oligarch Wolodja Slawin setzt ein paar Typen auf den Journalisten an, die ihm das Leben zur Hölle machen. Ihr gnadenloser Vernichtungsfeldzug gilt auch der Familie des Opfers. Quint soll dazu getrieben werden, außer Landes zu gehen. Für die Hexenjagd sind alle Mittel recht: bösartige Verleumdungen, Dauer-Lärmbelästigung, …
Junge mit schwarzem Hahn? Warum sollte man eine Geschichte lesen, die vor 500 Jahren spielt? Über einen Jungen, der nichts hat als einen schwarzen Hahn? Weil Stefanie vor Schulte etwas ganz Seltenes gelungen ist. Ein poetisches Märchen, in dem sich Grauen und Gnade die Waage halten. Fast wie die Gebrüder Grimm Es liegt an der Sprache, die so einfach und klar daherkommt, als wären die Gebrüder Grimm wieder auferstanden. Und es liegt natürlich an der Geschichte dieses merkwürdigen elfjährigen Martin, der sich in einer grässlichen von Grausamkeit beherrschten Welt seine Unschuld und Menschlichkeit bewahrt. Die Mission des schwarze Hahns Daran, dass das Kind ganz allein den Kampf gegen das Unrecht aufnimmt, ist der schwarze Hahn schuld. Der Vogel begleitet Martin, seit der Bub als einziger die Familientragödie überlebt hat – und er kann sprechen. Das Märchenhafte passt zu dieser seltsamen Geschichte wie die fast surreal gezeichnete Landschaft, in der die schwarzen Reiter ihr Unwesen treiben und Kinder entführen. Eine Welt am Abgrund Es ist eine Welt voller Bosheit, Elend und Aberglauben, in der womöglich die Wölfe mehr Mitgefühl haben als die Menschen. Und die grässliche alte Fürstin zieht die Fäden all dieser Schicksale. Nur der Maler, mit dem Martin eine…
Bernhard Schlink war Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und juristischer Ratgeber in der Wendezeit. Doch bekannt wurde der 1944 geborene Jurist als Schriftsteller mit dem 1995 erschienenen Roman „Der Vorleser“. Der Film mit Ralph Fiennes und Kate Winslet brachte Bernhard Schlink weltweite Bekanntschaft ein. Als Auto bleibt die deutsche Geschichte sein großes Thema. Das gilt nicht nur für sein erst kürzlich veröffentlichtes Theaterstück „20. Juli“, sondern auch für den neuen Roman „Die Enkelin“. Die Vertraute wird zur Fremden Im Mittelpunkt steht der Berliner Buchhändler Kaspar, der vor kurzem seine Frau Birgit verloren hat. In seiner Trauer sucht Kaspar nach Gründen für ihren Freitod und die Alkoholsucht. Er findet autobiographische Skizzen, die ihm eine Birgit vorführen, die er nicht kannte. Eine Frau, die an ihrer großen Lebenslüge zerbricht. Birgit ist zwar Kaspars wegen in den Westen geflohen, aber sie hat ihr – unwillkommenes – Baby im Osten zurückgelassen. Obwohl sie es sich immer wieder vornahm, hat sie sich nie darum gekümmert, was aus dem Mädchen geworden ist. Heimat in der völkischen Gemeinschaft Das übernimmt nun Kaspar, er macht sich im deutschen Osten auf die Suche nach der verlorenen Tochter. Was er findet, sind entleerte Landschaften und neue Nazis. Auch Birgits…
Wer kennt sie nicht, die stillen Helferinnen in den (fast) leeren Wohnungen? Ohne die Polinnen oder Rumäninnen, die monatelange ihre Familie gegen einen zu pflegenden Alten oder eine Alte eintauschen, wären viele Familien überfordert. Marco Balzano hat sich in seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ dieser Frauen angenommen, die auch in Italien unabkömmlich sind. Es ist eine dreistimmige Abrechnung mit unserer Gesellschaft geworden, die ihr Wohlleben auf die Ausbeutung anderer gründet. Verwaiste Familie Die Rumänin Daniela hat einen Taugenichts als Mann und zwei heranwachsende Kinder. Um ihnen ein besseres Leben zu sichern, stiehlt sie sich heimlich aus dem Haus und geht sie als ungelernte Altenpflegerin nach Italien. Die verlassene Familie muss sich neu organisieren, und tut sich damit schwer. Sohn Manuel fühlt sich von der Mutter verraten, Tochter Angelica von der neuen Mutterrolle, in die sie zwangsweise schlüpft, überfordert. Der Vater flieht in einen Job als LKW-Fahrer. Schließlich übernehmen die Großeltern die Erziehung des Jungen. Das geht gut, bis der Großvater stirbt – und Manuel in einem existentiellen Nirvana zurück lässt. Marco Balzano lässt erst den Jungen aus seiner Perspektive erzählen und erteilt dann der Mutter das Wort, die ihr schlechtes Gewissen kaum beruhigen kann. Nachdem Manuel als Folge eines…