Ausgezaubert
Rezensionen , Romane / 31. Oktober 2024

Thomas Manns „Zauberberg“, vor 100 Jahren erschienen, beschäftigt die Literaturszene bis heute. Auch Norman Ohler hat sich des Romans angenommen – und seinem Roman den ambitionierten Titel „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ gegeben. Schon etwas hoch gegriffen für diese autofiktionale Geschichte, in deren Mittelpunkt der Skiurlaub eines Vaters mit seiner Teenie-Tochter steht. Skiurlaub und Steuer Darum geht es: Ohler oder sein alter ego macht mit seiner 14-jährigen Tochter Suki Skiurlaub im Hotel Schatzalp oberhalb von Davos. Da, wo auch Thomas Manns „Zauberberg“ teilweise spielt. Begleitet werden Vater und Tochter von zwei Freundinnen Sukis und deren Müttern. Während die Mädchen beim feschen Skilehrer Hansi „Pizza-Fahren“ lernen, beschäftigt sich der leicht liebeskranke Vater mit dem Gedanken, wie er den teuren Skiurlaub von der Steuer absetzen könnte. Der Ort und seine Geschichte Er kifft ein bisschen, schaut in den  Zauberberg und beschäftigt sich mit der Geschichte des Ortes. Dass diese Bergdörfer früher mal bettelarm waren, weiß man eigentlich. Aber Ohlers Erzähler muss dafür erst einmal in die Dokumentationsbibliothek, wo er auf die Urväter des Davoser Erfolgs stößt, den Arzt Alexander Spengler, der den Luftkurort Davos für Tuberkulosekranke erfunden hat und den Fabrikanten Willem Jan Holsboer, der dafür sorgte, dass der aufstrebende Kurort an…

Ein Leben für ein Leben
Rezensionen , Romane / 22. Oktober 2024

In dem Roman „Bei Licht ist alles zerbrechlich“ erzählt der Neapolitaner Gianni Solla eine ebenso berührende wie unglaubliche Geschichte aus den letzten Jahren des 2. Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit. Davide ist arm dran. Als Sohn eines Schweinehirten stinkt er, wegen eines verkürzten Beins hinkt er auch noch, und er kann weder lesen noch schreiben. Das ideale Mobbing-Opfer für die Dorfjugend. Nur Teresa ist ihm eine treue Freundin, gegen den Willen ihres – wohlhabenden – Vaters. Die Juden kommen ins Dorf Es ist noch Krieg in Italien, Mussolinis Faschisten geben den Ton an. Auch Davides Vater ist Faschist. Eines Tages bringt ein Bus Juden aus Neapel in das abgelegene Dorf. Die anfängliche Abneigung gegen die unwillkommenen Gäste weicht allmählich der Gewöhnung. Die Dreier-Freundschaft Für Davide ist die Ankunft der Juden schicksalhaft. Ein gleichaltriger Junge, Nicolas, fasziniert ihn. Und dessen Vater, ein Lehrer, lehrt ihn Schreiben und Lesen. Nicht einmal die Schläge des Vaters und der grausame Tod seines Lieblingsebers können Davide vom Lernen abhalten. Nicolas wird zum Freund, zum Dritten im Bund von Teresa und Davide. Das ungleiche Trio erlebt einen unbeschwerten Sommer. Davide ist glücklich – bis er Teresa und Nicolas bei einem Kuss beobachtet. Das ist das Ende…

Corona im Café
Rezensionen , Romane / 14. Oktober 2024

Corona in Mailand. Eine typische Straße in der Stadt: „Da ist sie, die Via Marghera, eng und elegant, auch diese Straße ändert sich nie, mit unbekümmerter Ironie erträgt sie die Zeit.“ Mittendrin das Café Royal, zentraler Treffpunkt der gut situierten Menschen, die hier wohnen und zu Pandemie-Zeiten mehr denn je an ihrer Existenz leiden. Marco Balzano hat sie in seinem Episodenroman „Café Royal“ porträtiert. Die 18 Episoden, benannt nach den jeweiligen Protagonisten, fügen sich zum Bild einer Gesellschaft, die an der Langeweile zu ersticken droht. Träumen und Hadern Da ist der Arzt, der seine Patienten nicht mehr sehen kann. Der Aushilfspriester, der mit seinem Glauben hadert: „Ich lese die Messe wie ein Postbeamter.“ Der Kellner, der von einer unerfüllbaren Liebe träumt. Die Ehefrau und Mutter, die aus Langeweile eine Affäre mit dem Jugendfreund beginnt. Die einsame Alte, die ihren Kindern eine Nase dreht. Die Adoptivtochter, die wegen des Lockdowns die Bindung an die Adoptiveltern vertieft. Die Frau, die sich beim Martini-Trinken in einen Fremden verliebt. Der Hilfskoch, der mit der jungen Obdachlosen tändelt… Komplexes Beziehungsgeflecht Die Episoden sind aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, mal in der Ich-Form, mal berichtet der auktoriale Erzähler, auch ein Brief ist dabei. Meist geht es um…

Das Leben neu lernen
Rezensionen , Romane / 7. August 2024

„Von jetzt auf gleich war alles vernichtet, was ich mir vorgestellt hatte,“ sagte Daniela Krien vor Jahren in einem Gespräch über ihre behinderte Tochter. Wie ihr ergeht es der Ich-Erzählerin in Kriens neuem Roman „Mein Drittes Leben“. Linda hat ihre 15-jährige Tochter durch einen Unfall verloren. Seither ist ihr Leben zerbrochen und sie versucht,  das Leben neu zu lernen.  Unterschiedliche Trauer Die elegante Galeristin hat sich von einer alten Frau die zeitweise Übernahme eines heruntergekommenen Bauernhofes aufschwatzen lassen. Auf dem Land verändert sich Linda bis zur Unkenntlichkeit. So empfindet es jedenfalls Richard, ihr Mann. Auch er tut sich schwer, den Tod der Tochter zu verkraften. Aber an seinem Leben ändert sich kaum etwas. Immerhin hat er noch zwei Kinder aus erster Ehe. Und das nimmt Linda ihm übel. Rückzug aufs Land Das Dorf, in das sie zieht, ist so hässlich, dass sie das Leben dort als eine Art Strafe betrachten kann. Strafe dafür, dass sie noch lebt, während ihr Kind tot ist. Was sie nicht erwartet hat, ist, dass sie in diesem Dorf Freunde findet. Die Nachbarn, ein älteres Ehepaar mit ganz eigenen Sorgen, nehmen sie herzlich auf. Bei ihnen hat sie nicht das Gefühl, sie mit ihrem Leid zu…

Benedict Wells über sein Leben und Schreiben
Rezensionen , Romane / 5. August 2024

Er wollte nie viel von sich preisgeben. Auch weil er nicht mit der Familie von Schirach und deren Verstrickungen in der NS-Zeit in Verbindung gebracht werden wollte, hat er sich hinter einem selbst gewählten Namen versteckt: Benedict Wells. Doch in dem Buch „Die Geschichten in uns“, das er seinem Vater gewidmet hat, lässt der immer noch jugendlich wirkende Erfolgsautor die Lesenden teilhaben an seinem Leben und Schreiben. Inspiration von Stephen King Die Gedanken und Sätze dieses Buches kamen ihm fast mühelos, schreibt Benedikt Wells im Vorwort. Es ist kein Roman geworden, sondern eine Art Werkstattbericht. Inspiriert dazu hat ihn Stephen King mit seinem Buch „On Writing“ (Über das Schreiben). Und wie sein Vorbild schreibt Wells auch über sich selbst, denn ohne den Jungen, der er war „und sein Aufwachsen kann ich nicht von meinem Schreiben erzählen“. Schwierige Kindheit Und dieses Aufwachsen ist alles andere als einfach. Die Mutter manisch-depressiv, der Vater insolvent. Das staatlich-katholische Grundschulheim empfindet der sensible Junge als eine Zauberwelt weit weg vom Problem behafteten Zuhause. Dass es mit den Eltern auch glückliche Momente gab, will er nicht verhehlen. „Ihre Liebe trotz aller Probleme und der Zugang zur Literatur gehören zu den größten Privilegien meines Lebens.“ Schon mit…

Lebenslang Verdingkind
Rezensionen , Romane / 7. Mai 2024

Es waren andere Zeiten, harte Zeiten, von denen Lukas Hartmann, Jahrgang 1944, in seinem autofiktionalen Roman „Martha und die Ihren“ erzählt. Der Schweizer Autor greift dabei auf die eigene Familiengeschichte zurück. Wie die Martha im Buch war seine Großmutter ein Verdingkind, das sich aus eigener Kraft und mit viel Härte aus der Armut in die Bürgerlichkeit hochgearbeitet hat. Die Last der Kindheit Martha wächst zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Geschwistern in einem kleinen Schweizer Dorf auf. In Armut. Denn der Vater kann nach einem Unfall die Familie nicht mehr ernähren. Und als er stirbt, werden die sechs Kinder der Mutter weggenommen und von der Fürsorge auf verschiedene Bauernhöfe verteilt – auch Martha: „Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.“ Eine bittere Erfahrung, denn die Bauernkinder lassen sie spüren, dass sie nicht dazu gehört. Doch Martha beißt sich durch, gönnt sich keine Schwäche. Pflicht vor Liebe Die Arbeit in einer Fabrik verschafft ihr Selbstbewusstsein und fast so etwas wie Freiheit. Doch genießen kann sie nicht. Die Angst vor einem erneuten Absturz ins Elend lässt ihr keine Ruhe. Ihr Leben besteht…

Zeit und Schicksal
Rezensionen , Romane / 28. März 2024

Das andere Tal, so auch der Titel dieses erstaunlichen Debüt-Romans von Scott Alexander Howard, liegt hinter den Bergen egal ob im Osten oder im Westen. Und es ist identisch mit dem Tal, in dem die Ich-Erzählerin Odile aufwächst. Alles gleich, die Häuser, die Schule, der See, die Hügel. Und doch ist etwas anders: Die Zeit. Im Westen ist alles 20 Jahre früher, im Osten 20 Jahre später. Ein unüberwindbarer Zaun trennt die Täler von einander. Regulierte Zeitreisen Aber es ist möglich, in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu reisen – mit behördlicher Genehmigung und aus einem triftigen Grund.  Wegen übergroßer Trauer etwa, wenn ein geliebter Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Wer würde nicht alles dafür geben, ihn oder sie noch einmal zu sehen? Oder wer würde nicht gern wissen, wie die Enkel leben? Berührungsängste Die Zeitreisenden dürfen allerdings nicht mit den von ihnen Ersehnten sprechen, sie müssen Masken tragen, um nicht erkannt zu werden. Denn um jeden Preis muss verhindert werden,  dass Menschen in das Schicksal eingreifen. Deshalb sind auch die Gendarmen so wichtig, die an der Grenze patrouillieren. Fast so wichtig wie der conseil, der über die Anträge auf Zeitreisen entscheidet. Zerstörerisches Wissen Die schüchtern Odile…

Gut abgeschmeckt
Rezensionen , Romane / 26. Februar 2024

Auch mit knapp 90 Jahren beweist die Altmeisterin des deutschen Krimis Scharfsinn und Biss. „Gruß aus der Küche“ heißt ihr neuer, gut abgeschmeckter Roman, in dem sie wieder Abgründe ans Tageslicht befördert, die auch in ganz normalen Menschen schlummern. Übersichtliches Personal Das Personal ist übersichtlich: Die etwas klein geratene und rundliche Irma hat das Traditionsgasthaus „Zum Hirschen“ in das hippe Veggie-Restaurant Aubergine verwandelt. Unterstützt wird sie von dem gut aussehenden und ein paar Jahre jüngeren Josh, der allerdings ein Faible für weibliche Reize hat. Auch Irmas geistig eher minder bemittelte Freundin Nicole verfügt über solche und weiß sie entsprechend einzusetzen. Doch sie bekommt Konkurrenz von der selbstsicheren 16-jährigen Praktikantin Lucy. Und dann ist da noch der schwerhörige „Gemüsemann“. Der alte, geistig durchaus fitte Vinzent schnippelt in der Küche Gemüse und wird vom Küchenpersonal als alter Trottel abqualifiziert. Das Geheimnis des Gemüsemanns Nicht so von Irma, die den Alten wegen seiner Klugheit bewundert. Was die anderen nicht ahnen, Vinzent hört dank seines Mini-Hörgeräts alles, was sie sagen. Er zieht daraus nicht nur seine Schlüssel, sondern schreitet auch zur Tat und sorgt damit nicht nur für einige Verwirrung, sondern für eine ganze Serie von Ereignissen, die Irmas Leben von Grund auf erschüttern….

Das Leben ist kein Film
Rezensionen , Romane / 19. Februar 2024

„Ohne meine beruflichen Erfahrungen hätte ich das nicht schreiben können“, sagt Emanuel Bergmann über seinen neuen Roman Tahara. Bergmann war viele Jahre selbst Filmjournalist wie sein Protagonist Marcel Klein. Und die Einblicke in die Welt der Filme und die der Filmkritiker sind mit das Beste an diesem Buch, das von der Sehnsucht erzählt geliebt zu werden. Das Ferkel am Trog Dabei wirkt dieser Marcel Klein, der für ein Filmjournal schreibt, ziemlich abgebrüht. Er liebt zwar das Kino und den Film, aber er verachtet den Star-Rummel ebenso wie seine vorwiegend männlichen Kritikerkollegen, die sich bei den Filmfestspielen in Cannes so wichtig nehmen: „Man war dort nur das Ferkel am Trog, umringt von Kollegen, die alle um dieselben Bröckchen wetteiferten. Aber wenigstens gab‘s da was zu essen. Es konnte nicht schaden, sich gelegentlich auf Kosten anderer durchzufuttern.“ Liebe und Lügen Und das tut Marcel auch ausgiebig, nicht ohne ebenso ausgiebig dem reichlich fließenden Alkohol zuzusprechen. Alles wie immer, bis ihm im Hotel die geheimnisvolle Héloise über den Weg läuft, eine melancholische Schönheit. Marcel ist schockverliebt. So sehr, dass er, der Profi, das Interview mit dem Star der Festspiele vermasselt. Das kostet ihn den Job, weil auch all seine Lügen nichts mehr retten…

Am Ende war’s ein Leben
Rezensionen , Romane / 21. Dezember 2023

Das späte Leben heißt der neue Roman von Bernhard Schlink, eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Martin ist 76 Jahre alt, aber seine Familie ist jung. Denn er hat vor wenigen Jahren mit der 30 Jahre jüngeren Ulla nochmal eine Familie gegründet. Sohn David ist sechs. Nun hat der Familienvater die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen. Martin muss mit einem baldigen Tod rechnen. Was bleibt? Was bleibt von ihm? Wie wird sich David an ihn erinnern? Was kann er dem Jungen noch geben? Bilanz ziehen will er nicht: „Für das Leben lässt sich keine Bilanz ziehen. Man macht dies und macht das, und am Ende war‘s ein Leben. Mehr ist nicht.“ Also schreibt Martin einen Brief für David, den er erst erhalten soll, wenn er älter ist. Dieses Schreiben zieht sich durch den ganzen Roman. Martin will David etwas mitgeben für sein Erwachsensein, will ihn auf das Leben vorbereiten. Aber er will auch in Erinnerung bleiben. Kein leichtes Unterfangen, manchmal auch eine Gratwanderung. Das Leben nach ihm Er hat noch viel vor in der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt. Umso seltsamer findet er es, dass Ulla sich ihm immer mehr entzieht. Betrügt sie ihn? Wie soll er damit umgehen? Martin weiß ja,…