Für mich als Augsburgerin und als Fan der Augsburger Puppenkiste ist dieses Buch etwas ganz besonderes. Denn Thomas Hettche hat in seinem Roman „Herzfaden“ nicht nur die Anfänge der Puppenkiste heraufbeschworen, er beschreibt auch die Augsburger Nachkriegszeit so plastisch als hätte er sie erlebt. Vom Capitol kann man da lesen, das heute kein Kino mehr ist. Von der Trümmerlandschaft nach dem Krieg und dem Ludwigsbau, der „wie durch ein Wunder den Krieg überstanden hat“ aber nicht die Nachkriegszeit.
Hinter den Kulissen
So ist dieses Buch auch eine Reise in eine gern verdrängte Vergangenheit. Alles beginnt ganz und gar märchenhaft: Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür in eine Dachkammer, wo die berühmtesten Marionetten versammelt sind: Der kleine Prinz, die Prinzessin Li Si, das Urmel, Kater Mikesch, Jim Knopf…
Zwischen Märchen und Realität
Aber nicht nur die Spielfiguren trifft das auf Puppengröße geschrumpfte Mädchen in dieser geheimnisvollen Welt, sondern auch Hatü, die Schöpferin der Marionetten. Die längst verstorbene aber legendäre Hannelore Oehmichen hat die Anfänge der Augsburger Puppenkiste erlebt, sie wird in Hettches Roman zur Zeitzeugin, zum Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Magie und Realität. Sie weiß auch, was der Herzfaden ist: „Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“ Das hat ihr der Vater gesagt.
Der Furcht erregende Kasperl
Genial, wie Thomas Hettche die Fäden verknüpft, wie er Märchen und Realität zusammenbringt, das Niedliche und das Schreckliche. Möglich macht das ein literarischer Kunstgriff. Hettche stellt sich vor, dass Hatü eine Kasperl-Figur erschaffen hat, die ihr selbst Angst macht: „Und während sie den Kasperl auspackt, erzählt sie dem Vater von der Werkstatt in Schwangau und wie sie dort versucht habe, zum ersten Mal selbst eine Marionette zu schnitzen. Dann liegt der Kopf neben dem Tod und dem Storch auf der Werkbank und er ist ihr noch immer so unheimlich, dass sie ihn nicht ansehen mag. Stockend erzählt Hatü dem Vater davon. ‚Er guckt wirklich ein bisschen finster. Wollen wir ihn freundlicher mache?‘ Bevor Hatü etwas erwidern kann, hat der Vater den Kopf des Kasperls in der Hand wie einen Apfel, in der anderen das Schnitzmesser, und schon fährt es dem Kasperl in den Mund und in die Nase und jetzt schneidet es ihm in die Augen hinein, bei denen Hatü sich so große Mühe gegeben hat. Ihr tut es beim Zusehen weh. Aus all den Sachen auf dem Tisch kramt der Vater zwei Holzperlen hervor, nimmt eine Dose Klebstoff, zieht den tropfenden Pinsel heraus, lässt zwei Kleckse in die Wunden fallen, die er in die Augenhöhlen geschnitten hat und befestigt die Perlen darin. Stolz hält er Hatü den Kopf hin. ‚“Ein richtiger bayerischer Kasperl ist das jetzt.'“
Vier gegen den Kasperl
Und doch fürchtet sich Hatü immer noch vor diesem Kasperl, und die anderen Marionetten teilen diese Furcht. Denn so einfach lässt sich der Schrecken wohl nicht wegschnitzen. Und jetzt hat der Kasperl auch dem Mädchen Angst eingejagt und ihr iphone geklaut. Weil es ihm auf geheimnisvolle Weise Macht verleihen könnte, soll sie es zurückholen. Ein gefährliches Unterfangen. Und wie im Märchen schließen sich ihr drei mutige und weniger mutige Marionetten an – Urmel, Jim Knopf und der kleine König Kalle Wisch.
Zwei Erzählebenen
Ihre Suche nach dem schrecklichen Kasperl ist eine Erzählebene, auf der anderen erinnert sich Hatü an ihre Kindheit vor dem Krieg in Nazi-Deutschland und an die Anfänge der Augsburger Puppenkiste, nachdem ihr Vater heimgekehrt war. Mit leichter Hand zieht Hettche die Strippen in diesen zwei Geschichten und gibt den Lesern eine Ahnung davon, wie groß das Verlangen im Nachkriegsdeutschland war, die Untaten der Vergangenheit buchstäblich zu überspielen.
Hineingelesen…
… in die Welt der Marionetten
Der Kater ist Hatüs Lieblingsmarionette. Daran, wie er seinen Schwanz bewegen kann, hat sie zusammen mit dem Vater lange experimentiert, und die Mutter hat ihm schließlich sein wunderschönes weißes Fell genäht. Auf Samtpfoten schleicht er jetzt zu dem schlafenden Könige hinüber. Der Schwanz schlägt buschig in die Luft. Das hat Hatü lange geübt.
„Wieso hat der Kater eigentlich einen beweglichen Mund, der König aber nicht?“ fragt Manfred Jenning, während er den Blick nicht von der Marionette lässt. „Obwohl doch Tiere gar nicht sprechen können.“
„Im Märchen können sie es aber.“ Der Vater schaut ihn ernst an. „Denn im Märchen sind es die Tiere, die den Menschen in dem Unheil helfen, das ihnen zustößt. In der Märchenwelt sind wir nicht alleine. Und alle Marionetten kommen aus dieser Welt.“
„Das verstehe ich nicht, Herr Oehmichen.“
Vroni sieht den Vater skeptisch an.
„Märchen, Vroni, sind nicht nur die Geschichten, die man dir als Kind vorgelesen hat. Schau dir mal den Kopf des Königs an.“
„Was ist damit?“
„Er ist viel zu groß für seinen Körper. Erwachsene sehen ganz anders aus: Es ist ein Kind.l Aber als Zuschauer glauben wir trotzdem, dass es ein König ist. Marionetten sind unfertige Menschen. Und alles, was wir machen, ist unfertig. Denn was machen wir? Wir wackeln mit einem Stück Holz! Alles andere geschieht im Kopf des Zuschauers. Ein Schauspieler spielt das Sterben, eine Marionette aber stirbt tatsächlich. Denn wenn wir aufhören, sie zu bewegen, ist sie für den Zuschauer wieder nichts anderes als totes Holz. Und dann wird sie wieder lebendig. Märchenhaft sind nicht die Geschichten, die wir erzählen, ein Märchen ist das Erzählen selbst.“
Info: Thomas Hettche. Herzfaden – Roman der Augsburger Puppenkiste, mit Zeichnungen von Matthias Beckmann, Kiepenheuer & Witsch, 286 S., 24 Euro
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