Sprachlos in Irland

22. Juli 2024

Mit „Long Island“ knüpft Colm Tóibín an seinen Roman „Brooklyn“ an, in dem die junge Irin Eilis in den 1950er-Jahren zum Arbeiten nach New York kommt und dort heimlich den Italiener Toby heiratet. Bei einem Besuch in der Heimat trifft sie ihre Kindheitsliebe Jim wieder und verbringt mit ihm und den Freunden Nancy und George einen glücklichen Sommer. Rund 20 Jahre später lebt Eilis mit Tony und ihren Kindern in „Long Island“. Doch glücklich ist sie nicht. Denn Tony hat sie mit einer Nachbarin betrogen – und die erwartet ein Kind aus diesem Seitensprung.

Flucht in die Heimat

Eilis weigert sich strikt, dieses Kind aufzunehmen. Ganz im Gegensatz zur italienischen Großfamilie, die darin kein Problem sieht. Die Irin fühlt sich zunehmend unverstanden in dem Familienverbund und beschließt, zum 80. Geburtstag ihrer Mutter nach Irland zu reisen, um sich über ihre Gefühle klar zu werden.

Jim und seine Pläne

Doch es kommt anders als geplant. Denn in der irischen Kleinstadt lebt immer noch Jim, der nie geheiratet hat. Allerdings hat er sich nach langem Zögern dazu entschlossen, mit der inzwischen verwitweten Nancy ein neues Leben anzufangen. Bringt Eilis diese Pläne ins Wanken?
Es ist vor allem die Sprachlosigkeit der Protagonisten, die in diesem Roman Spannung erzeugt. Das Ungesagte ist der rote Faden für die Handlung. Es wird viel getratscht im Örtchen Enniscorthy, wo Jim das Pub führt und Nancy die Fish‘n-Chips Bude – über einander aber kaum miteinander geredet.

Nancys Ahnungslosigkeit

So entstehen Missverständnisse, etwa zwischen Jim und Nancy:
„Wenn er sie davon abbringen wollte, weiter über einen Grundstückskauf nachzudenken, sollte er es jetzt tun. Aber Nancy hatte etwas so Entschiedenes und Leidenschaftliches an sich, wenn sie von ihrer gemeinsamen Zukunft sprach. Sie konnte unmöglich, nicht im Entferntesten ahnen, dass Jims Gedanken fortwährend zu Eilis zurück schweiften, dahin, wo sie jetzt sein und was ihr gerade durch den Kopf gegen mochte.“

Schwierige Konstellation

Diesmal erzählt Toibin aus verschiedenen Perspektiven. Neben Eilis kommen auch Jim und Nancy zu Wort, wobei die Sprachlosigkeit vor allem bei den Frauen mit Ahnungslosigkeit gepaart ist. Beide fühlen sich Jim nahe, denken daran, ihr Leben an ihn zu knüpfen. Eine scheinbar ausweglose Konstellation, bei der keine der Personen Sympathiepunkte sammeln kann.
Nancy scheint vor laute Zukunftsplänen die Realität zu übersehen. Eilis, die sich daheim in Long Island als moralische Instanz gegenüber Toby dargestellt hat, hat ihn mit Jim betrogen. Und Jim kann sich nicht durchringen, sich aktiv zwischen den beiden Frauen zu entscheiden:
„Jim stand in seinem Hausflur und versuchte, Eilis zu sehen, versuchte zu hören, was sie vielleicht sagen würde. Er lehnte sich gegen die Wand und machte die Augen zu. Vielleicht würde er morgen eher wissen, was zu tun war. Aber fürs Erste würde er hier warten, nichts tun. Er würde seinem eigenen Atem lauschen und bereitstehen, die Tür aufzumachen, wenn Nancy um Mitternacht käme. Genau das würde er tun.“

Die Enge der Community

Tóibín versteht es meisterhaft, die Zwiespältigkeit und Zögerlichkeit seiner Protagonisten zu beschreiben. Auch das Milieu, aus dem beides erwächst. Die dörfliche Enge im irischen Enniscorthy, in der jede jeden belauert, entspricht der Enge in der italienischen Community, der Eilis entfliehen wollte. Das Ende bleibt offen. Womöglich begegnen wir Eilis irgendwann wieder.

Info  Colm Tóibín. Long Island, aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini, Hanser, 316 S., 26 Euro

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