Sein Kampf

26. August 2022

Charles Lewinsky (Jahrgang 1946) kann vieles: Volkslieder, Sitcoms, Hörspiele. Vor allem aber kann er schreiben. Und wie! Sein Roman „Der Halbbart“ stand 2020 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Preiswürdig ist auch sein neuer Roman „Sein Sohn“. „Von dem Sohn, den der Herzog von Orléans mit der Köchin Marianne Banzori zeugte, ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 zur Welt kam und in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde. Alles andere ist Erfindung.“ So steht es am Ende dieses Buches.

Suche nach der eigenen Identität

Für den fiktiven Lebensweg dieses Sohnes hat sich Lewinsky tief in die Geschichte der nachnapoleonischen Zeit begeben. Doch trotz aller historischen Hintergründe ist „Sein Sohn“ viel mehr als ein historischer Roman. Denn die Suche nach der eigenen Identität ist zeitlos. Für Louis Chabot, den Protagonisten des Romans, beginnt das Leben als Underdog in einem Waisenhaus. Ganz allmählich und mit der Hilfe eines wohlwollenden Marquis arbeitet sich der von allen gemobbte Junge zu einem angesehenen Bürger empor.

Viel Glück im Leben

Das Glück scheint ihm auch in schlimmen Zeiten hold zu sein. Und Louis Chabot ergreift es mit beiden Händen, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. Das zahlt sich auch, immer wieder helfen ihm freundliche Menschen weiter. Schließlich wird er Teilhaber eines florierenden Weinhandels in einem Schweizer Dorf und dort von allen respektiert. Ein halb verhungertes Mädchen, dem er im „Jahr ohne Sommer“ Zuflucht gewährt, wird später seine Frau. Hochschwanger nimmt sich Seraina eines Findelkinds an, die beiden Kinder wachsen gemeinsam auf. Über der Familie scheint ein Segen zu liegen.

Späte Einsicht

Doch Louis setzt all sein Glück aufs Spiel, als er erfährt, wer sein Vater ist. Und wie sein Weg vom Waisenhaus in Mailand bis ins Schweizer Dorf zwar steinig aber stetig bergan geführt hatte, geht es jetzt bergab. Er hadert mit sich selbst: „Du hast immer wieder Glück gehabt. Sehr viel Glück. Du hast Seraina getroffen. Hast Laurin gefunden. Mia ist zur Welt gekommen. Aloys hat dir die Weinhandlung vermacht. Zizers hat dich aufgenommen. – Und du? – Hast das alles weggeschmissen. Aufs Spiel gesetzt. Weil du Anerkennung von einem Mann wolltest, dem du nie begegnet bist. Weil dir ein Märchen wichtiger gewesen ist als die Wirklichkeit.“
Die Einsicht kommt zu spät.

Keine Gefahr der Langweile

„Wenn ich mit einem Buch beginne, versuche ich, nicht allzu viel über die Geschichte zu wissen. Für mich ist das Abenteuerurlaub,“ hat Charles Lewinsky in einem Interview der Neuen Züricher Zeitung gesagt. „Ich weiß nicht, wohin ein Buch geht. Und wo ich ein Ziel habe, weiß ich nicht, was unterwegs passiert, ich will es auch gar nicht wissen. Ich würde mich sonst beim Schreiben langweilen.“ Gelangweilt hat sich der Autor bei dieser Lebensgeschichte, die so viele Volten schlägt, sicher nicht. Auch die meisten Lesenden werden Louis Chabots Weg mit viel Empathie verfolgen.

Info 
Charles Lewinsky. Sein Sohn, Diogenes, 367 S., 25 Euro

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