Ich mag Joel Dicker, ich mag auch seine komplex aufgebauten, nicht immer logischen aber stets spannenden Romane. Deshalb hatte ich mich auch auf das neue Buch „Ein ungezähmtes Tier“ gefreut. Doch diesmal hat mich der Autor enttäuscht. Der Roman wirkt wie mit heißer Nadel gestrickt. Womöglich liegen die stilistischen Brüche an der Übersetzung. Aber auch den handelnden Personen fehlt die Tiefe, sie bleiben schemenhaft. Figuren, deren Existenz nur dazu dient, dem Autor dabei helfen, die Lesenden in die Irre zu führen.
Verwirrende Zeitsprünge
Das ist schließlich seine Spezialität. Mit großer Lust arbeitet er in seinen Romanen an einem Labyrinth, aus dem er erst am Ende den Ausweg zeigt. Auch in diesem Roman ist nichts wie es scheint. Was schwarz war, wird weiß und umgekehrt. Grautöne gibt es kaum. In verwirrenden Zeitsprüngen nähert Dicker sich einer Aufklärung, die aufmerksame Leserinnen schon im deutschen Titel finden könnten.
Ein Raubüberfall als Leitmotiv
Doch der Weg dahin ist noch weit. Auf über 400 Seiten hat der französische Autor reichlich Gelegenheit, falsche Fährten zu legen. Worum es geht? Vordergründig um einen spektakulären Raubüberfall in Genf mit zwei Beteiligten, der im Buch zum Leitmotiv wird. Vor allem aber geht es um zwei Paare, die zufällig über ihre Nachbarschaft zu Freunden werden. Beide haben zwei Kinder. Aber das war‘s dann schon mit den Gemeinsamkeiten.
Gegensätzliche Paare
Arpad und Sophie sind ein Glamour-Paar wie aus der gleichnamigen Zeitschrift, ein exquisites Glashaus als Zuhause, zwei Porsche in der Garage. An Geld scheint es der schönen Anwältin und dem attraktiven Banker nicht zu mangeln. Karine und Greg dagegen leben in einem wenig reizvollen Reihenhaus. Die Verkäuferin in einer Boutique und der Elite-Polizist würden zu gern mit dem anderen Paar tauschen, das so offensichtlich ein Leben in Saus und Braus führt. Doch dann macht Greg eine Entdeckung, die das Leben beider Paare komplett auf den Kopf stellt…
Zu einfach
Soweit so spannend, wären da nicht Passagen wie folgende: „Im Glashaus war Sophie gerade ins Ehebett geschlüpft, in dem Arpad bereits lag und las. Sie nahm ihm das Buch aus der Hand und begann ihn zu küssen. Sie spürte sein Zögern, aber damit hatte sie gerechnet. Er war wegen letzter Nach verunsichert. Um ein Problem zu beheben, muss man erst einmal seine Ursache verstehen, und das war ihr gelungen. Auf der Rückfahrt von Saint-Tropez hatte er davon gesprochen, dass sein Bonus bei der Bank flöten gehen würde. In diesem Jahr würde er also weniger verdienen als sie, und sein männlicher Stolz hatte einen Kratzer abbekommen. Er musste sich überlegen fühlen können. Sie auf die eine oder andere Art dominieren. Entsprechend zog Sophie die Handschellen aus der Schublade ihres Nachttischs und kettete sich damit an den Bettpfosten. Sie flüstere ihm zu: „Na los, mein Schatz.“ Mit einer animalischen Geste riss er ihr Negligé hoch und drang in sie ein. Sie lächelte. Das Problem war behoben.“
Rätselhafter Dritter
Behoben ist allerdings nichts, denn da ist noch ein dritter Mann, Fauve, der sowohl mit Arpad wie auch mit Sophie eine dunkle Geschichte teilt. Ist er das ungezähmte Tier, das der Titel verspricht? Wer Joel Dicker kennt, weiß, dass die Lösung nicht ganz so schlicht ist.
Info Joel Dicker. Ein gezähmtes Tier, aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma, Piper, 416 S., 26 Euro
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