Paul Heyse? Wer kennt noch den Namen und weiß, dass dieser Mann als erster Deutscher den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Allein schon deshalb ist die Idee aller Ehren wert: Mit seinem Roman „Am Götterbaum“ will Hans Pleschinski den Dichter aus der Vergessenheit holen. Fährt man in München durch die gleichnamige Unterführung, wird man kaum glauben, dass sie nach einem ehemals weltberühmten und geachteten Autor benannt ist.
Götterbaum und Villa
Dabei gäbe es wohl die – allerdings bewohnte – Heyse-Villa, in der sich zu Lebzeiten des Autors die Künstlerszene Münchens traf. Auch Thomas Mann, Theodor Fontane und Franz von Lenbach waren dort willkommene Gäste. Pleschinski ließ sich von der immer wieder vom Abbruch bedrohten Villa und dem im weitläufigen Garten stehenden „Götterbaum“ zu einem Gedankenexperiment inspirieren: Was wäre, wenn die Stadt München aus der Villa ein „Paul-Heyse-Zentrum“ machen wollte?
Heyse-Strophen auf den Lippen
Im Vorfeld dieser fiktiven Umgestaltung schickt er eine Stadtbaurätin, eine Schriftstellerin und eine durch einen Skiunfall behinderte Archivarin zu einem Ortstermin mit einem Heyse-Experten durch die Stadt. Mit „Heyse-Strophen auf den Lippen“ flanieren sie durch das heutige München, streiten über das Werk von Paul Heyse und machen sich ihre Gedanken zur aktuellen Entwicklung der Stadt.
Betulicher Tonfall
Die soeben aus Russland zurückgekehrte Autorin Vandervelt verkörpert dabei wohl die Arroganz des heutigen Literaturbetriebs, die Stadtbaurätin Silberstein steht für politische Unentschlossenheit und die Archivarin Flößer für kulturelle Naivität. Das Geplauder des weiblichen Trios wird untermalt vom Summen der Millionenstadt – eine durchaus nette Idee, die allerdings mit zunehmender Länge des Spaziergangs ihren Charme verliert. Auch der sich an Heyse anlehnende betuliche Ton langweilt auf die Dauer.
Ortstermin im Heyse-Haus
Da tut es gut, dass der Heyse-Experte mit seinem chinesischen Mann neuen Schwung in die Runde bringt. Köstlich zu lesen dann wieder der Ortstermin im Heyse-Haus, wo sich die Bewohner mit Erinnerungen und „Reliquien“ des Nobelpreisträgers wohnlich eingerichtet haben und ihn auf ihre Art vor dem Vergessen bewahren. Trotz einiger Schwächen ist Pleschinski mit diesem Roman zweierlei gelungen: Er hat Paul Heyse in die Gegenwart geholt und ein durchaus vergnügliches München-Porträt geschrieben.
Hineingelesen…
… in die Heyse-Villa
Sie erreichten die Empore.
Das Stabparkett glänzte.
Zwischen den Wohnungen im oberen Stockwerk wurde es endlich etwas geräumiger.
„Hier haben Sie noch einen Blick von oben“, meinte die Frau oder Gefährtin des Uhrmachers. Sie trug ein leichtes, geblümtes Kleid.
Auch von oben war nichts spektakuläres zu sehen. Die Stiege, Pflanzen, Anna Heyse, Putzeimer und Schrubber in einer Ecke, hinter Glas ein Duplikat der Nobelpreisurkunde von 1910. Rosen vor der Silhouette Stockholms…
Weshalb sich auf der Balustrade ein Tisch mit Korbsitzen befand, blieb rätselhaft. Trafen sich die Mietparteien hier manchmal auf neutralem Terrain? Zum Kartenspielen? Eines der Mädchen verabschiedete sich von ihren Eltern: „Nach dem Kino geh ich mit Linda noch ins Max.“
„Das ist aber reizend“, bemerkte Therese Flößer und trat auf drei Kleiderpuppen zu, „bezaubernd.“ Eine Puppe stand nackt da. Auf zweien waren bodenlange, weiße Umhänge drapiert. Die Stickerei am hohen Kragen und um den Saum funkelte. Der Satinstoff fiel in üppigen Falten herab. Aus demselben Material bestanden zwei Turbane mit Agraffen, aus denen Pfauenfedern ragten.
„Sie haben schön Fasching gefeiert?“ freute sich die Bayerin, „oft ziehen sich die Leute nur noch Müllsäcke über und setzen sich eine Clownsnase auf.“
„Das ist fürs Sommerfest.“ Die Bürste in der Hand der Frau des Konditors wirkte wie eine Waffe. Ihr Mann hatte dunkles, geschorenes Haar, der Schnitt war gewiss praktisch für die Backstube. Zur Kutte des älteren Uhrmachers passe sein grauer Haarkranz. Die Feinarbeit im Keller mit Lupe im Auge mochte einen Zug ins Mönchische haben.
„Ihre berühmten Sommerfeste: Ja, wir hörten schon davon.“ Vor Antonia Silbersteins innerem Auge hatte sich die gesamt Enge und Schlichtheit des Nachkriegsaufbaus längst in etwas Weites, Großartiges und Einladendes verwandelt. Der Brunnen vor der Villa durfte ruhig figürlich werden, dann gelangte der Besucher in ein Marmor-Entrée – exakt hier-,
und die Konferenzräume und Stipendiatenapartments gruppierten sich rund um das Atrium. Bis nah an die Pinakotheken reichten die Bibliothek, ein Lesegarten… Wenn man das Projekt mit Schwung in Angriff nahm, würde das Land aufsehenerregendste Ensemble für den geistigen Austausch bekommen, ein kulturelles Forum, das bald in aller Mundes wäre. Die Post musste zu einer Heyse-Briefmarke animiert werden. Ein Treffpunkt mit einer Dauerstellung, mit Wechselausstellungen, mit der Bronzetafel der Initiatoren am Eingang, einem Posten im Kuratorium, Empfängen, nicht unangenehmen Dienstreisen zu Partnerinstitutionen, zum Le Botanique in Brüssel, dem Továrna in Prag, ja zum Centre Pompidou und Londons Barbican Center…
Die Stadt hätte in ihre Zukunft investiert. –
In Waldtrudering lebten Mieter auch kommod, in erholsamem Umland, uns hatten keinen Ärger mit Altbausubstanz. Das Allgemeinwohl rangierte vor Einzelinteressen, ewig konnte es hier nicht so marode bleiben.
„Das sind Mäntel für Die Weisheit Salomos“, klärte der Konditor neben den Puppen auf, „ich kümmere mich um die Bewirtung.“
„Die ist bestimmt köstlich“, meinte Flößer und strich mit der Hand vorsichtig über die aufwendige Stickerei.
„Wir haben einen großen Grill“, sagte die Uhrmacherfrau. Zu Hause trug sie wahrscheinlich öfters oder immer Flip-Flops. Die Latschen wirkten gut gebraucht.
„Wir führen jedes Jahr ein Stück von Paul Heyse auf. Ich erledige die Näharbeiten.“
So schmal und leicht Ortrud Vandervelt auch war -, als sie mit ihrem ganzen Gewicht und Flimmern vor den Augen in einen Korbstuhl sank, ächzte das Geflecht und die Baumbusbeine schienen sich zu spreizen. Frau Bartholomäe eilte, um Wasser zu holen.
„Die Sabinerinnen, Die Göttin der Vernunft und Die Pfälzer in Irland haben wir bereits gespielt. Auch die Nachbarn machen mit.“
Info Hans Pleschinski. Am Götterbaum, C.H. Beck, 276 S., 23 Euro
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