Jessame Chan regt mit ihrem nur leicht dystopischen Roman „Institut für gute Mütter“ zum Nachdenken an – und zu Diskussionen. Denn die amerikanische Autorin nimmt die aktuellen Debatten um Mutterschaft, Feminismus, Rassismus und staatliche Eingriffe ins Privatleben zum Ausgangspunkt einer ebenso spannenden wie deprimierenden Geschichte.
Ein Fehltritt und die Folgen
Es war nur ein kurzer Fehltritt, der Frida ihre Tochter und ihr Lebensglück kostet. Die alleinerziehende Mutter hat ihr Baby Harriet im Spielsitz zurückgelassen, um berufliche Unterlagen zu holen. Und weil sie wegen Harriet nächtelang kaum geschlafen hat, ist sie einfach länger weggeblieben als geplant. Zwei Stunden vielleicht. Zu lang, das weiß sie selbst. Doch sie war gestresst, versucht sie der Sozialarbeiterin zu erklären. Die hat wenig Verständnis: „Wenn Sie einfach das Haus verlassen möchten, wann immer Ihnen danach ist, sollten Sie sich einen Hund anschaffen und kein Kind.“
Kein Verständnis für Überforderung
Die Frau könnte Fridas Überforderung verstehen, wenn sie nur zuhören würde. Sie könnte verstehen, dass Frida darunter leidet, dass ihr Traummann Gust sie wegen einer Jüngeren verlassen hat. Dass sie Angst davor hat, die rothaarige Rivalin könnte ihr Harriet entfremden. Doch weder die Sozialarbeiterin noch der Psychologe wollen verstehen, dass eine Frau nicht rund um die Uhr Mutter sein kann. Mütter haben hier keine Lobby.
Sadistischer Drill
Und so nimmt Fridas Schicksal seinen Lauf. Sie wird in eine Einrichtung eingewiesen, die sie zu einer guten Mutter machen soll. Und natürlich ist sie dort nicht allein – allerdings die einzige mit asiatischen Wurzeln. Die Mütter müssen alles abgeben, was an ihr früheres Leben erinnert, sie müssen Einheitskleidung anziehen und sich dem Drill der sadistisch veranlagten „Trainerinnen“ unterwerfen.
Training mit Roboter-Puppen
Um „mütterisch“ zu lernen – kindgerechte Ansprache, Geduld, Empathie, Zeitmanagement – bekommen die Frauen KI-gesteuerte Puppen im Alter ihrer Kinder. Das Ganze erinnert an Dystopien wie Margaret Atwoods „Der Report der Magd“. Emmanuelle nennt Frida ihre Puppe, zu der sie trotz innerer Abwehr nach und nach eine Beziehung aufbaut. Auch, weil ihr kaum Zeit zugestanden wird, mit Harriet zu telefonieren.
Die Sache mit den Männern
Und dann kommt noch eine sexuelle Komponente hinzu, als die Mütter mit den Vätern einer Paralleleinrichtung elterliche Fürsorgepflicht üben sollen. Die emotional vernachlässigte Frida verliebt sich in einen der Männer auch, weil er ihr Verständnis entgegen bringt. Ein Happy End ist trotz des einjährigen Drills so gut wie ausgeschlossen.
Unter die Haut
Jessamine Chan hat sich für ein dramatisches Finale entschieden. Allerdings haben bis dahin vor allem Leserinnen schon mit wachsendem Unbehagen von den so selbstverständlich wirkenden behördlichen Übergriffen gelesen und von der Empathielosigkeit der Sozialarbeiterinnen gegenüber überforderten Müttern.
Mit „Institut für gute Mütter“ ist Jessamine Chan ein Roman gelungen, der unter die Haut geht.
Hineingelesen…
… in den Besuch
„Wir sollten jetzt anfangen, Ms. Liu.“
Er sei dann im Arbeitszimmer, sagt Gust und gibt Frida einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Harriet versteckt sich unter dem Couchtisch. Frida sieht kurz die Sozialarbeiterin an. Kein guter Anfang. Die Sozialarbeiterin folgt ihr ins Wohnzimmer, wo Frida sich neben die ausgestreckt daliegende Harriet kniet und ihr sanft den Bauch streichelt.
„Ich bin da, mein Spatz. Mommy ist da.“ Fridas Herz schlägt ihr nicht bis zum Hals , sondern bis in die Augen, in die Fingerspitzen. Bitte, denkt sie. Bitte, mein Spatz. Harriet streckt den Kopf raus und lächelt, rollt sich dann zu einer Kugel zusammen und hält sich beide Hände vors Gesicht. So bleibt sie liegen.
„Mommy, komm her.“ Harriet winkt Frida zu sich unter den Tisch.
Als Frida sie an den Beinen hervorziehen will, strampelt sie sich frei.
„Ihnen bleiben noch fünfunddreißig Minuten, Ms. Liu. Warum spielen Sie nicht ein bisschen miteinander? Ich muss sehen, wie Sie mit ihr spielen.“
Frida kitzelt Harriets nackte Füße. Gust und Susanna ziehen sie immer so trist an. Harriet trägt ein graues Shir und braune Leggings, wie ein Kind aus einem Endzeitfilm. Harriet wird bald neue Kleider von ihr bekommen. Mit Streifen und Blümchen. Sie werden sich ein neues Haus suchen. Eine neue Nachbarschaft ohne schlechte Erinnerungen.
„Eins, zwei drei!“ Sie zieht Harriet an den Beinen hervor. Harriet kreischt vergnügt auf.
Frida nimmt sie hoch. „Lass dich ansehen, mein Spatz.“
Harriet lächelt, zeigt ihre wenigen eckigen Babyzähnchen. Sie streicht mit klebrigen Fingern über Fridas Cardigan. Frida überhäuft sie mit Küssen. Sie streicht mit den Fingern über Harriets Wimpern, zieht Harriets Shirt hoch und lässt die Lippen auf ihrem Bau pupsen, bis Harriet lauthals auflacht. Das ist die einzige Freude, die zählt. Alles könnte davon abhängen, ob Frida ihr Kind berühren darf, ob sie es sehen darf.
„Du hast Mommy so gefehlt.“
„Nicht flüstern, Ms. Liu.“
Die Sozialarbeiterin steht etwa einen halben Meter entfernt. Frida kann ihr Vanilleparfüm riechen.
„Ms. Liu, bitte geben Sie den Blick auf das Gesicht des Kindes frei. Warum fangen Sie nicht an zu spielen? Gibt es hier irgendwo Spielsachen?“
Frida schirmt Harriet mit ihrem Körper ab. „Bitte, geben sie uns einen Moment. Wir haben uns seit elf Tagen nicht gesehen. Sie ist doch kein Zirkustier.“
Info Jessamine Chan. Institut für gute Mütter, Ullstein, 417 S.,22,99 Euro
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