Literarischer Sprengstoff

16. März 2021

Véronique Ovaldé ist eine versierte Autorin.  Sie weiß genau, wie sie ihre Leser bei der Stange hält.  Das gilt auch für ihren neuen Roman mit dem etwas sperrigen Titel  „Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln“.  „Sie blickt von ihrer Terrasse auf ein Meer aus Büschen und hohen Kastanien, sie lächelt immerfort, niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln, nicht wahr…“ Der Satz mit dem Titel kommt fast am Ende des Romans, in dem nicht nur gelächelt wird.

Das Lächeln als Maske

Ein Lächeln könne auch eine Maske sein, sagt die Autorin Véronique Ovaldé. Und Gloria, die alleinerziehende Mutter, die im Zentrum dieses Romans steht, weiß diese Maske zu nutzen. Das hat sie das Leben gelehrt – und so manches mehr.

Familienfluch und Mutterliebe

Der Roman beginnt damit, dass Gloria ihre Töchter Stella und Loulou mitten aus dem Unterricht abholt und mit ihnen nach Norden fährt, ins Elsass. In einem eher abgelegenen herrschaftlichen Haus hat sie als Kind viel Zeit bei der gefühlskalten Großmutter verbracht. Auch bei der Mutter hat Gloria nie sorgende Liebe gefunden. Diese Lieblosigkeit empfindet sie als Familienfluch.
Um dem zu entkommen will sie ihren Töchtern eine perfekte Mutter sein, sie vor allen schlechten Einflüssen und Nachrichten bewahren. Dieser Anspruch treibt sie an, um ihm gerecht zu werden, ist sie zu allem entschlossen.

 Ein ungeklärter Unfall

Sie selbst musste ohne Mutter zurecht kommen, später auch ohne Vater. Mit 17 traf sie Samuel, die Liebe ihres Lebens, aber als verantwortungsvoller Familienvater ein Versager. Samuel kam bei einem unaufgeklärten Brand in seiner Werkstatt ums Leben, und der smarte Anwalt Pietro Santini wurde neben dem Kneipenwirt Onkel Gio mehr und mehr zu ihrem Beschützer.
Warum sie Jahre später mit ihren Töchtern vor ihm flieht?

Versteckte Puzzleteile

Véronique Ovaldé lässt ihre Leser lange im Unklaren – auch wenn sie als Autorin immer wieder erklärend in die Handlung eingreift. Und obwohl die Aufmerksamen zwischendrin eine ungute Vorahnung beschleicht. Der Roman mit seinen vielen Rückblenden ist wie ein Puzzle, dessen wichtigste Einzelteile sich versteckt haben oder womöglich auch an der falschen Stelle angelegt wurden. Eine labyrinthische Geisterbahnfahrt mit einem unerhörten Happy End. Literarischer Sprengstoff – mit Brandbeschleuniger.

Hineingelesen…

… in ein schicksalhaftes Treffen

Auch als Jugendliche blieb Gloria klein, sehr klein… sie hatte breite Hüften, eine schlanke Taille und einen vollen Busen. Den Körperbau einer Pariser Muse aus dem 19. Jahrhundert. Denken Sie nicht, dass sie ihr Aussehen vorteilhaft fand. Sie haste ihre Brüste und alles, was damit zu tun hatte. Wie sollte man mit solchen Brüsten distinguiert oder intelligent wirken… Sie nahm ihre Brüste wie alle Schalck-Frauen: als unabwendbares Schicksal…
Natürlich hatte sie daran gedacht zu hungern, aber die Arbeit in der Bar hatte gereicht, sie in eine schlanke und muskulöse junge Frau zu verwandeln – immer noch mit großen Brüsten und einer lächerlich abnormale Figur. Und das Erste, was Samuel sah, als er in die Bar trat, war die junge Frau, so klein und beweglich, das man Lust bekam, sie methodisch zu falten, um sie in der Hosentasche bis ans ander Entde der Welt mitzunehmen, sie immer bei sich zu behalten, wie ein Maskottchen, ein wunderbares Maskottchen mit schwarenz Haaren, glatt genug, um flüssig zu wirken. Und dasnn das kleine perfekte Maskottchen an dem Ort auseinanderzufalten, der beiden zusagte, denn es war mehr als offensichtlich, dass man sie nie dazu bringen würde, in die Hosentasche zu schlüpfen und sich an dem Ort zu entfalten, der dem anderen passend erscheint, wenn sie keinen Vorteil für sich sah. Ihr Blick war durchdringend und finster, ihre Haut so weiß wie das Innere einer Zitronenschale, einfach umwerfend. Samuel dachte, Da haben wir eine, die ganz und gar unerreichbar für mich ist.

Info. Véronique Ovaldé. Niemand hat Angst vor Leuten, die lächeln, Frankfurter Verlagsanstalt, 224 S., 22 Euro

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