In den Wohnzimmern von China

1. April 2019

„So chinesisch hatte ich mir China nicht vorgestellt,“ schreibt Stephan Orth, nachdem er bei einer Familie eingeladen war – zum Hund-Essen. Der Journalist ist mal wieder als Couchsurfer unterwegs gewesen. Das kann er inzwischen richtig gut, weil er weiß, wo er interessante Leute trifft und wo es wirklich was zu erzählen gibt. Denn Orth reist nicht im Selfie-Modus, dafür ist er viel zu sehr Journalist. Er reist mit offenen Augen und Ohren und einem Gespür für Willkür und Ungerechtigkeit.

Zwangsbeglückung in Kashgar

In Kashgar etwa erfährt er von einer Perversion seiner Art zu reisen: „Staatlich angeordnet kommen Propagandisten und potenzielle Denunzianten ins eigene Haus,“ notiert Stephan Orth über die Zwangsbeglückung der Uiguren durch den Hausbesuch von Han-Chinesen, und stellt ironisch fest: „Da haben die Leute bestimmt eine Superzeit zusammen.“ Die lückenlose Überwachung scheint dem Globetrotter nicht nur in der Heimat der Uiguren beängstigend.
Auch sonst erfährt er immer wieder von Einschränkungen und Einschüchterungen. Pressefreiheit existiert nicht, da liegt China auf Platz 176 von 180 Ländern, noch 30 Plätze hinter Russland.

Hyper-moderne Städte, abgelegene Dörfer

Doch die Diktatur kann auch Erfolge vorweisen: China ist hyper-modern, manche Städte sehen aus wie in einem Science-Fiction-Film. Für Altes dagegen hat man wenig Sinn, es sei denn es bringt Geld: „Chinesische Tourismusunternehmen behandeln alte Dörfer wie Start-ups. Sie bauen Tickethäuschen, stellen Personal ein, locken auswärtige Restaurant-, Shop- und Hotelbetreiber an… Wenn massenhaft Besucher kommen, ist das eine Goldgrube. Wenn nicht, zieht der Investor bald wieder ab.“
So etwas will das offizielle China nicht in einem Buch über das Land lesen. „China will Claqueure statt Fragesteller, Propaganda statt Realismus, Honig ums Maul statt Haar in der Suppe,“ weiß Stephan Orth schon vor Reiseantritt. Aber er weiß auch, dass er das nicht liefern, dass er nicht die Sehenswürdigkeiten abklappern wird. „Ich will in die Wohnzimmer,“ schreibt er.

Kein China aus dem Reiseprospekt

Und dafür nimmt er einiges in Kauf: dass er nur selten allein ist, dass er auch mal kein Bett hat, dass die Gastgeber ihn am liebsten mästen würden … Orth durchstreift High-Tech-Metropolen und abgeschiedene Dörfer, er klettert auf hohe Berge, überschreitet Grenzen, fährt mit dem Hochgeschwindigkeitszug, versucht sich in einem Filmchen und schaut immer hinter die Kulissen auch touristischer Hotspots. Und über die verschiedenen Stationen der langen Reise setzt sich ein Bild des modernen China zusammen, das so ganz anders ist als im Reiseprospekt. Lesenswert!
Info: Stephan Orth, Couchsurfing in China – Durch die Wohnzimmer der neuen Supermacht, Malik, 256 S., 16 Euro, ISBN 978-3-89029-490-2
https://youtu.be/QB9J3DUhuyM

 

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