„Wolfsegg, sagte der Vater. Früher waren die Berge das Reich der Wölfe, es erstreckte sich bis hinunter nach Slowenien. Die Wölfe besaßen Kristalle und Edelsteine im Überfluss, während die Menschen nur Eisensteine aus dem Berg holten. Die Wölfe verlachten sie wegen ihrer armseligen Ausbeute. Da begannen die Menschen das Erz unten im Tal zu schmelzen. Aus dem Eisen fertigten sie Waffen und rächten sich an den Wölfen, beraubten, vertrieben und töteten sie. Nur diese Mulde war für die Menschen unerreichbar, und so wurde sie zum letzten Zufluchtsort der Wölfe.“
Der Mob aus dem Dorf
Es ist eine düstere, archaische Welt, die Peter Keglevic in seinem Thriller Wolfsegg beschreibt. Von Anhang an hängt das Verhängnis wie eine schwarze Gewitterwolke über Agnes und ihrer Familie. Das Mädchen leidet darunter, dass ihrem Vater ein Diebstahl angehängt wurde, als er seine Arbeit beim Herrn des Tals verlor. Förster war der Vater, und als solcher kannte er das Land und die Berge wie seine Westentasche. Trotzdem entkommt er nicht seinem Schicksal – und dem aufgehetzten Mob aus dem Dorf, der einen Mann rächen will, dessen guter Ruf durch Agnes und seine Familie Schaden gelitten hat.
Die Hölle im Heim
Der Vater wird tot geprügelt, die Mutter, schon länger an Krebs erkrankt, stirbt kurz darauf elendiglich im halb zerstörten haus. Und Agnes hat nur eines im Sinn, ihre kleinen Geschwister vor dem Heim zu bewahren, in dem sie für kurze Zeit war und das bei ihr ein Trauma hinterlassen hat. Für sie war das Heim die Hölle. Was genau passiert ist, hat sie verdrängt, aber es drängt mit Macht an die Oberfläche. Und als sie schließlich weiß, was ihr und anderen Mädchen im Heim angetan worden ist, weiß sie auch, was sie tun muss.
Leichen im Keller
Es ist ein brutaler Rachefeldzug, den Keglevic seiner halbwüchsigen Heldin und den Lesern zumutet. Ein Rachefeldzug, der an die Zeit der Wölfe erinnert, die einst Wolfsegg beherrschten. Und natürlich kann danach nichts mehr gut werden. Die Welt ist aus den Fugen, die ganze Region in Aufruhr. Denn zwei der Ihren, die als brave Bürger galten und jetzt tot sind, haben Leichen im Keller. Es gibt Urteile und Verurteilungen, aber das meiste wird unter den Teppich gekehrt, bevor der Sommer ins Tal zieht. Denn dann kommen die Touristen…
Die Natur als Spiegel
Keglevic hat einen Thriller von elementarer Wucht geschrieben mit einer anrührenden Heldin, die unschuldig und grausam zugleich ist. Und einer Natur, die nicht bloße Kulisse ist, sondern den Aufruhr spiegelt, der in Agnes herrscht: „Grell lag das Land an diesem denkwürdigen Sonntag unter der Sonne, ein Funke hätte genügt, um alles in Brand zu setzen… Eisenstein suchte Schatten an den Ausläufern des Waldes, der zu beiden Seiten bis zur Baumgrenze hochstieg, dann war der Berg nur mehr Stein. Die Häuser des Städtchens lehnten aneinander wie Eidechsen mit ihren glänzen Schieferschuppen auf den Dächern.“
Man liest sich fest in diesem packenden Roman, der keine Rücksicht auf empfindsame Gemüter nimmt. Als alles in seiner Ausweglosigkeit unerträglich wird, musste ich eine Auszeit nehmen. Aber der Roman hat mich nicht losgelassen – bis hin zum bitteren Ende. Und da musste ich an Thomas Hobbes denken und den viel zitierten Satz, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.
Info: Peter Keglevic. Wolfsegg, Penguin, 317 S., 20 Euro
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