Gary Shteyngart war noch ein Kind, als seine Eltern aus Leningard, dem heutigen St. Petersburg in die USA emigrierten. Die Welt der russischen Emigranten hat ihn nie losgelassen. Ebenso wenig wie die Neigung zur Selbstparodie. Beides gilt auch für seinen neuen Roman „Landpartie“.
Freunde mit Migrationshintergrund
Die Pandemie wütet in der Stadt, und der russisch-stämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky hat mit seiner Frau Masha und der chinesischen Adoptivtochter Nat Zuflucht in seinem Landhaus gesucht. Zur Unterhaltung hat er ein paar Freunde aus alter Zeit in die zum Haus gehörenden Bungalows eingeladen. Bis auf seine ehemalige Schülerin Dee haben sie alle auch Migrationshintergrund: der koreanische Dandy Ed, die ebenfalls aus Südkorea stammende Dating-App-Erfinderin Karen und Vinod, den Sohn indischer Immigranten.
Der Gastgeber führt Regie
Zu dieser illustren Intellektuellen-Runde stößt später noch ein berühmter Schauspieler, der dabei helfen soll, Senderovskys neuen Roman zu verfilmen. Das ist die Ausgangsbasis von Gary Shteyngarts neuem Roman, einer klugen Gesellschaftssatire vor dem Hintergrund von Corona und Trump. Zwar weckt das Setting Erinnerungen an Boccaccios Klassiker Decamerone. Aber bei Shteyngart, der mit Senderovsky Alter und Beruf gemein hat, finden die erotischen Abenteuer, die teilweise überraschende Wendungen nehmen, erst statt. Und bei einigen führt der Gastgeber selbst Regie.
Tschechow lässt grüßen
Shteyngart hat seinen Roman als eine Art Tragikomödie in vier Akten angelegt wie Tschechows Onkel Wanja, der im Verlauf der Landpartie noch eine Rolle spielen wird. Auf fast 500 Seiten folgt man den Irrungen und Wirrungen der Protagonisten in diesem etwas anderen Sommernachtstraum. Man lauscht geistreichen Tischgesprächen, literarischen Anspielungen, nostalgischen Träumereien und boshaften Betrachtungen und kann sich an saftigem Sex ergötzen.
Lesegenuss trotz Längen
Das ist trotz mancher Längen unterhaltsam (und zuweilen lehrreich) zu lesen, auch wenn der Spannungsbogen unter einigen Abschweifungen leidet. Aber Shteyngart erzählt mit so großer Fabulierfreude und stilsicherer Ironie, dass man ihm auch die abstrusesten Verwicklungen gern vergibt. Keinen kleinen Anteil am Lesegenuss hat der kongeniale Übersetzer Nikolaus Stingl.
Hineingelesen…
… ins Corona-Exil
Während das Quecksilber der Spitze des Thermometers zustrebte, feierte die Nation mit einem nicht nachlassenden Gefühl des Entsetzens ihren Geburtstag. In anderen Teilen des Landes stapelten sich die Leichen. Die Kühllaster fuhren nach Süden und Westen. Es wurde deutlich, dass der Präsident des Landes seine Macht vielleicht niemals freiwillig abtreten würde, und Karens Assistentin leitete das Antragsverfahren zur Wiedererlangung ihrer koreanischen Staatsbürgerschaft für sie ein.
Gestrandete Autoren von Gesellschaftsromanen fotografierten flussauf- und flussabwärts pflichtschuldig schwer zu bestimmende Blumen und machten Aufzeichnungen über das Erscheinungsbild aufziehender Sturmtiefs und drohender Gewitterwolken. Mehr als einer war zu beobachten, wie er zu einer schlafenden Eule aufblickte oder eine von der Sonne ausgedörrte Wiese betrachtete und seine jeweilige höher Macht anflehte, ihm doch bitte dabei zu helfen, aus dieser ganzen Stille irgendetwas zu machen.
Unterdessen summte das Anwesen des Grundbesitzers von tierischer und menschlich-tierischer Aktivitäten. Steve, das Murmeltier, hatte seinen dem Pool benachbarten Bau mit Flieder geschmückt, so jedenfalls sah es für Nat aus (in Wirklichkeit hatte Onkel Vinod den Bau geschmückt und das Kind überzeugt, das Ganze sei das Werk des Murmeltiers). Zugvögel -Grasmücken? – fielen in einen Baum ein, überrannnten ihn mit ihrem Gesang und verließen ihn dann wieder ebenso rasch und ohne erkennbaren Grund wie gelangweilte amerikanische Touristen eine antike historische Stätte. Karen und Vinod pflegten sich in Eds Freiluftdusche zu stehlen, wo sie monumentalen Sex hatten, die vier Hände gegen die mit Muscheln besetzten Wände gedrückt, während sie einander zur Erfüllung brachten…
… Mit der Abreise des Schauspielers war es, als wäre ein Fabrikbesitzer fortgegangen und die Arbeiter spazierten leicht benommen an den stillstehenden Fließbändern vorbei. Wie sollten sie sich untereinander verhalten? Gehörte das alles jetzt ihnen? Was würden sie tun, nun da der klotzige Name nicht mehr über dem Eingangstor stand? Seltsamerweise rückten die sieben verbliebenen Bewohner der Kolonie enger zusammen. Ihnen allen hafteten ihre Fehler und ihre früheren Rangeleien an(man erinnere sich nur an Dees letzten Ausbruch bei Tisch), aber im tiefsten Innern mochten sie einander und waren an ihre gegenseitige Gesellschaft gewöhnt wie Geschwister oder Polarforscher.
Info Gary Shteyngart. Landpartie, Penguin, 475 S., 25 Euro
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