Future Fairy Tales: Novella und Cyberbella

3. März 2022

Rapunzel wird zu Novella, Dornröschen mutiert zu einer kyrokonservierten (tiefgefrorenen) Schönheit und der böse Wolf ist ein Vergewaltiger aus einer anderen Welt. In  Future Fairy Tales  erzählt Holly-Jane Rahlens tatsächlich Geschichten aus einer anderen Welt. Manche der Grimmschen Märchen sind so verwandelt, dass man sie kaum mehr erkennt.

Froschkönig und Cyborg

Adieu, ihr kühnen Prinzen und wunderschönen Prinzessinnen!  Willkommen, Fortschritt. Der Froschkönig  ist ein Cyborg, ein Maschinenmensch, der trotz seines amphibischen Aussehens menschliche Gefühle hegt. Cyberbella ist alles andere als ein Aschenputtel, auch wenn sie als Computernerdin ihren Stiefbrüdern bei Computerproblemen helfen muss statt sich zu amüsieren. Es ist auch kein Prinz, dem sie schließlich ihr Herz schenkt, sondern ein Mädchen mit ähnlichen Vorlieben.

Mädchen machen mobil

Überhaupt die Mädchen! Alles andere als hilflose Hascherl. Schneewittchen, zum Beispiel, ist die selbstbewusste Tochter eines Mafia-Bosses. In einem Interview kritisiert sie die Netflix-Serie über ihr Leben und entlarvt viele der märchenhaften Details als Lügen. Da kommt das Sterntaler-Märchen noch besser weg, das eine Influencerin in den Mittelpunkt stellt. Sie wirbt für den „megacoolen“ Hotspot Las Vegas.  Und dann  erzählt sie von ihrem Weg in die Glitzermetropole, auf dem sie alles bis auf ihr letztes Hemd verschenkt hat. Zum Lohn gewinnt sie dann beim Glücksspiel den Höchstpreis.

Ein Lob der Märchen

Interessant ist auch die Rahmenerzählung, bei der es um die literarische und historische Einordnung dieser angeblich 2325 entstandenen Zukunftsmärchen geht. In den Zwischenkapiteln gibt es „wissenschaftliche Erklärungen“ zu den vorherigen Texten, unter anderem auch zur Bedeutung der Märchen als die Mutter aller Erzählungen.
Das alles ist schon ein bisschen schräg, aber auch durchaus amüsant zu lesen.  „Es wird einmal“ statt „Es war einmal“.

Hineingelesen…

… in Novella alias Rapunzel 

Die Dame mit der strengen Miene brachte Novella über das Meer in eine neue Stadt am Wasser, eine Stadt mit hohen, glänzenden Häusern aus Stahl und Glas und Wolkenkratzern so weiß und hell wie Polareis. sie führte Novella zu einem hohen weißen Bauwerk, das früher ein Sendeturm gewesen war. Es bestand nur aus zwei oberen Stockwerken und einem endlosen Treppenhaus. Sie nannte es den Elfenbeinturm. Wegen der vielen Treppen kam niemand zu Besuch, außer natürlich die große, schlanke Dame. Sie hatte klugerweise einen neuen Lift einbauen lassen, dessen Kabine aus herrlichem Kristallglas bestand. Im Eingang des Turms, in der Mauer verborgen, befand sich ein Gerät, in das die Frau einen Code eintippte, und dann senkte sich die Kabine herab und öffnete ihre makellos plierten Glastüren.
Gelegentlich hatte der gläserne Lift Launen und weigerte sich herabzukommen. Wenn das geschah, rief die Dame:
Novella, Novella, 
lass den Lift herunter.
Dies war ein Geheimzeichen, das nur im absoluten Notfall verwendet wurde. Wenn Novella es hörte, wusste sie, dass sie die Kabine mithilfe eines Knopfes von oben herunterschicken musste. Wenn die große, schlanke Dame dann verärgert oben ankam, sagte sie immer“: „Wir müssen den Lift reparieren lassen.“ Doch sie tat es nie. „Es ist ein Konstruktionsfehler“, sagte sie achselzuckend. „Man lernt, damit zu leben.“
Dies also war Novellas neues Zuhause: ein Elfenbeinturm. Dort lebte und atmete und lernte sie. Dort wuchs sie zu einer jungen Frau heran. Die Erinnerung an ihre Eltern auf der anderen Seite des Meeres, tief im Herzen der Wälder, an den Mann und die Frau, die sie in den ersten Jahres ihres Lebens so innig geliebt hatte, verblasste.

Info  Holly-Jane Rahlens. Future Fairy Tales, Rotfuchs, 272 S., 22 Euro, ab 13

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