Fluch der Kindheit

28. März 2023

Ein Buch wie ein Axthieb: Ehrlich bis zur Selbstaufgabe schildert Matt Rowland Hill in „Erbsünde“ sein Leben mit der Drogensucht. Und man wundert sich, dass dieser Mann trotz allem 39 Jahre alt werden konnte.

Elterliche Hölle

Der Autor wird als Sohn eines Baptistenpastors und seiner pietistischen Frau in Südwales geboren und erlebt früh den moralischen Druck der Kirche, der ihn allerdings nicht von seiner Lieblingsbeschäftigung abhält: Der Junge masturbiert gern und ausgiebig – eine Art Flucht aus der elterlichen Hölle, in der sich Vater und Mutter Bibelsprüche um die Ohren hauen.

Traumatischer Bruch

Erst in der Jugend macht der Junge den nächsten Schritt, folgt seinen intellektuellen Zweifeln und bricht mit Eltern und Religion. Aber die Prägung seiner Kindheit klebt an ihm wie die Erbsünde an den Gläubigen. Hill taumelt von einem Extrem ins andere. Er entdeckt die Welt der Drogen und verfällt ihr wie seine Familie der Bibel verfallen war.

Spirale von Sucht und Abstürzen

Für den begabten jungen Mann beginnt eine Spirale von Drogenträumen, Traumata, Entzugs-Erfahrungen und Chaos. Mal schafft er es zwei Jahre, sich von Drogen fern zu halten. Mal ist er vier Jahre clean, um dann doch einen Rückfall zu erleben, schlimmer noch als alle anderen.  Es sind diese so drastisch geschilderten Abstürze, die wohl jede und jeden Lesenden bis ins Herz treffen.

Es geht auch um Liebe

Man will diesen wankelmütigen Typen schütteln, bis er endlich begreift, was er sich antut. Dass er sich buchstäblich in die Scheiße reitet. Dass er mit seiner penetranten Suche nach Erlösung nur in eine neue Abhängigkeit gerät, die jede Liebe zerstören muss. Denn um Liebe geht es auch in diesem Wahnsinns-Leben.

Keine Ehrenrunde am Ende

Das Ende ist offen. „Es gibt keinen Ankunftsterminal, keine Ehrenrunde, keinen Abspann mit Geigenmusik“. Bleibt Matt Rowland Hill clean, nachdem er sich seine Wunden gezeigt und seine Traumata von der Seele geschrieben hat? Er hat in „Erbsünde“ seine Grenz-Erfahrungen gründlich aufgearbeitet und den Lesenden erlaubt, ihm ganz nahe zu kommen. Dass das möglich ist, ohne sich als Voyeur zu fühlen, beweist das außerordentliche literarische Talent Hills. Man wünscht diesem Autor, dass er seine Sucht überwindet. Schon aus purem Egoismus, weil man gern wieder von ihm lesen würde.

Hineingelesen…

… in Opium für das Volk

Die Heftigkeit meiner Wut überrascht mich. Vor weit über zehn Jahren habe ich den Kinderkram weggepackt und dem Dogma meiner Eltern den Rücken gekehrt. Längst habe ich gelernt, Gottesdienste als das zu sehen, was sie sind – billige Beschwörungen und Zaubersprüche, wie man sie zu Urzeiten am Lagerfeuer sang, um die furchterregende Dunkelheit zu bannen. Ich hatte eine Überdosis Opium fürs Volk abbekommen und mir überlegt, dass ich mich lieber an die Realität halte. Mich achtzehn habe ich den Staub von den Füßen gestreift und den Glauben meiner Kindheit genauso zu vergessen versucht, wie ich anscheinend eine der Sprachen meiner Kindheit vergessen hatte. Seitdem bedeuteten mir die Rituale der evangelikalen Christenheit so wenig wie das alljährliche Brimborium in Mekka.
Wie kommt es dann aber, dass ich, als der Pianist aufspielt und die Gemeinde sich erhebt, um ein altes walisisches Kirchenlied zu singen, schluchzen muss? Es ist eine einfache geistliche Melodie in Dur, eine Reihe auf- und absteigender melodischer Phrasen ohne Auflösung. Ich weiß nicht, ob ich das Lied schon jemals gehört habe, und doch kommt es mir vor, als seien seine Akkorde irgendwo unterhalb meiner Erinnerung in mir verborgen gewesen und hätten darauf gewartet, genau in diesem Augenblick aufgerufen zu werden. Um dem in meiner Brust aufsteigendem Heulen zu widerstehen, presse ich die Zähne aufeinander und halte mir den Mund zu, doch als die Melodie zu einem Moll-Akkord kommt,bricht in mir ein Damm, und Tränen laufen mir über die Wangen. Im Versuch, die Worte zu übersetzen, greife ich auf mein schlummerndes Walisisch zurück, doch mir fallen nur Bruchstücke ein…. Nein, ich habe echt keinen Schimmer, was das bedeutet. Ich weiß nur, als mir wieder ein Stöhnen die Kehle hochsteigt und ich Jos bestürztes Gesicht sehe, dass ich hier rausmuss.
… Ich bleibe auf dem Gehsteig stehen und lasse die Tränen kommen. Unwillkürlich greife ich nach der Innentasche meiner Anzugjacke, und mit Entsetzen fällt mir ein, dass ich nur noch eine halbe Tüte H habe. Dem, was gerade in mir abläuft, mit einer halben Tüte beikommen zu wollen, ist hoffnungslos absurd, als wollte man einen Hausbrand mit einer Wasserpistole löschen.

Info Matt Rowland Hill. Erbsünde, Kein&Aber, 351 S., 25 Euro

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert