Der Journalist Wolf Harlander hat das Ohr am Puls der Zeit. Nach seinem Thriller 42 Grad, einer Öko-Dystopie, wendet er sich in seinem neuen Roman Systemfehler dem Thema Cyberattacken zu. Auch das ein hochbrisantes Thema. Was er im ersten Teil des dicken Thrillers schildert, ist wohl nicht weit entfernt von der Realität: Nach einem Hackerangriff fallen Ampeln aus, fahren keine Züge, fallen Flugzeuge vom Himmel. Und dann bricht auch das Internet zusammen. Nichts geht mehr – auch nicht im Gesundheitssystem.
Hochansteckendes Virus
Ein hochansteckendes Virus hat das europäische Netz infiziert. So ansteckend wie das Corona-Virus, das in diesem Roman allerdings keine Rolle spielt. Der BND rätselt. Ein Angriff aus China oder aus Russland? Fest steht nur, dass dieses Computervirus ursprünglich vom amerikanischen Geheimdienst NSA für eigene Cyberangriffe entwickelt wurde und nun in modifizierter Form in ganz Europa wütet – mit bösen Folgen auch auf Trinkwasser- und Stromversorgung. Kurz, auf das ganze tägliche Leben. Wolf Harlander schildert drastisch unsere totale Abhängigkeit vom Netz.
Rechte, Verschwörer und Islamisten
Im schnell wachsenden Chaos machen rechte „Heim-Brigaden“ und QAnon-Verschwörer mobil. Auch Islamisten sehen ihre Chance auf Umsturz. Das Ganze spitzt sich gefährlich zu. Aber natürlich ist Rettung nah. Der junge BND-Eleve Nelson Carius merkt schnell, dass der zunächst verdächtige Familienvater und ehemalige Spieleentwickler Daniel Faber der falsche Mann ist und die Fäden dieses Hacker-Netzes ganz woanders zusammenlaufen. Doch bis er die Verantwortlichen ausschalten kann, ist er auf Daniels Hilfe und die seines spielesüchtigen Sohnes Ben angewiesen.
Filmreifer Showdown
Zum Ende inszeniert Wolf Harlander einen vom Sturm auf das Weiße Haus inspirierten filmreifen Showdown mit vielen Toten und Verletzten, den Nelson wundersamerweise fast unversehrt übersteht. Und dank Daniel und Ben kann er am Ende die Spinne im Netz unschädlich machen. Harlander ist wieder ein hochaktueller und spannender Thriller gelungen – mit einigen Schwächen allerdings.
Kommt da noch was?
Die handelnden Personen bleiben bis auf Daniel und Nelson klischeehafte Skizzen. Der Handlungsstrang um Daniels Familie zerfasert mittendrin. Und ausgerechnet der empathielose Spielenerd Ben trägt zur Lösung des letzten Rätsels bei. Zwar bahnt sich zwischen dem Überhelden Nelson und seiner abweisenden Kollegin eine Annäherung an, aber seine Recherchen zum unaufgeklärten Tod der Eltern stecken fest. Soll da noch was kommen? Sieht fast so aus.
Hineingelesen…
…in BND-Diskussionen
Reihum berichteten die BND-Mitarbeiter von Einsätzen, anstehenden Aufgaben oder den Entwicklungen in Drittländern. Diskussionen gab es keine, nur hin und wieder fragte jemand nach. Horn machte sich Notizen.
„Und was ist mit dem Ausfall des Handynetzes in den verschiedenen europäischen Regionen?“ fragte er. „Sie alle haben die Fernsehnachrichten gesehen. Für die Medien war das ein Riesenthema. Schließlich besitzt ja so gut wie jeder ein Mobiltelefon.“
„Wir arbeiten dran“, sagte ein Mann mittleren Alters. „Nach ersten Meldungen gab es wegen des Netzwerkausfalls sieben Tote: zwei Mountainbiker in Innsbruck, die mit einem Felsen kollidiert sin, vier Urlauber in Norditalien, die nach dem Ausfall des mobilen Navis in einen Fluss gefahren und dort ertrunken sind, sowie eine Frau in Portugal, die vom Verrücktspielen ihres Handys so abgelenkt war, dass sie in eine Baugrube fiel und sich den Hals brach.“
Gekicher.
„Das ist nicht zum Lachen. Bitte bleiben Sie ernst“, ermahnte Horn.
„Die Mobilfunkgesellschaften arbeiten noch an der Aufklärung“, fuhr der andere Kollege fort. „Auffällig ist, dass diese Vorfälle gleichzeitig aufgetreten sind – über Ländergrenzen hinweg und paarallel in verschiedenen Netzen. Wir gehen von einem Angriff über das Internet aus.“ …
„Für mich ist es eindeutig ein abgestimmter Angriff“, meldete sich Nelson zu Wort. „Umfang und Tiefe zeigen, dass wir es mit Profis zu tun haben.“
„Aha, und woher nimmt unser neuer Kollege seine Weisheiten?“ Die junge Frau mit der strengen Frisur sah ihn direkt an. „Haben Sie Belege? Oder wollen Sie hier nur die Rolle des Weltuntergangs-Propheten spielen und sich wichtigmachen?“
Nelson ärgerte sich über diese Bemerkung. Was bildete sich die Frau ein? Er hatte das Recht, einen Diskussionsbeitrag zu leisten, ob er nun neu war oder nicht.
„Ganz grundsätzlich zeigen die Cyberattacken der vergangenen Jahre, wie anfällig das World Wide Weg und die dahinterliegende Hardware sind“, fuhr er deshalb fort. „Das Internet ist die Achillesferse der modernen Gesellschaft.“
Er sah die junge Frau direkt an. „Und um Ihre Frage gleich vorwegzunehmen: Das ist der Erkenntnisstand der Wissenschaftler und Fachleute rund um den Globus., ich gebe das nur wieder. In unserer schönen neuen Welt haben wir Menschen das Rückgrat unserer Zivilisation den Computern und Softwares anvertraut. Das hat für jeden Einzelnen viele Vorteile, es macht unseren Alltag bequem und hilft der Wirtschaft.“ Nelson blickte in die Runde. Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit. „Der Nachteil ist: Wir haben keinen Notfallplan, wenn es mal schiefläuft. Es gibt keinen Plan B. Deshalb heißt es für uns alle: Augen zu und hoffen, dass alles gutgeht. Wir vertrauen auf störanfällige, technisch längst überholte Lösungen aus der Steinzeit des Internets. Das ist unser marodes Fundament für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Leider bieten wir damit Kriminellen und Terroristen freie Bahn.“
Info Wolf Harlander, Systemfehler, Rowohlt, 495 S., 16 Euro
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