Ludmila Ulitzkaja geht es um die „Pest zu Zeiten der politischen Pest“: Die studierte Biologin erzählt von einer „drohenden Pestepidemie in Moskau 1939, die durch das schlimmste und mächtigste Machtinstrument jener Zeit gestoppt wurde, durch das NKWD, den Geheimdienst der UdSSR.“ Diese scheinbar allmächtige und skrupellose Organisation hat wie eine Krake ihre Fühler überall und sie schreckt vor nichts zurück. Die Menschen sind ihr hilflos ausgeliefert, die Angst um die eigene Existenz zerstört jede Zwischenmenschlichkeit.
Brutalität gegen Infektiosität
Bei der Bekämpfung der Pandemie erweist sich der Geheimdienst mit seinen brutalen Maßnahmen als effektiv. „Tatsächlich war es damals ausgerechnet der Geheimdienst, der seine einschlägige Erfahrung bei der Verhaftung und „Liquidierung“ von Menschen nutzte, um binnen weniger Tage eine strenge Quarantäne zu organisieren und so eine Epidemie verhinderte“, schreibt Ludmila Ulitzkaja im Vorwort. Und: „So verblüffend es scheint: Die Sicherheitsorgane waren stärker als die Kräfte der Natur. Das bietet Stoff zum Nachdenken…“
Ein Arzt als Held
Allerdings: Wie in Camus‘ „Die Pest“ ist es auch hier ein unerschrockener Arzt, der durch seinen selbstlosen Einsatz dafür sorgte, dass sich die Infektionen nicht noch weiter verbreiteten. Das weckt Erinnerungen an den chinesischen Augenarzt Li Wengliang, der frühzeitig vor dem Coronavirus in Wuhan warnte und selbst daran starb.
Schneller Wechsel der Schauplätze
Auch Ulitzkajas Erzählung liegt eine reale Geschichte zugrunde. Das Szenario hat sie schon 1978 geschrieben – als Bewerbung für einen Drehbuchgrundkurs. Beim Aufräumen zur Corona-Isolation fiel ihr der Text wieder in die Hände. Das erklärt auch, warum das Ganze wie ein Film aufgebaut ist, mit wechselnden Personen und Schauplätzen, was dem Leser ungeteilte Aufmerksamkeit abverlangt.
Mehr Solidarität und Mitgefühl
Im Nachwort schreibt Ludmila Ulitzkaja auch von ihrer Hoffnung, dass die Pandemie „zu einem grundlegenden Umdenken in allen Bereichen unseres Zusammenlebens führen“ werde: „Die Welt verändert sich auf unvorhersehbare Weise, und ich hoffe, dass diese neue Prüfung, vor der die Menschheit steht, uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Einsicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab.“
Info: Ludmila Ulitzkaja, Eine Seuche in der Stadt, Hanser, 111 S., 16 Euro
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