Ein Leben für ein Leben

22. Oktober 2024

In dem Roman „Bei Licht ist alles zerbrechlich“ erzählt der Neapolitaner Gianni Solla eine ebenso berührende wie unglaubliche Geschichte aus den letzten Jahren des 2. Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit. Davide ist arm dran. Als Sohn eines Schweinehirten stinkt er, wegen eines verkürzten Beins hinkt er auch noch, und er kann weder lesen noch schreiben. Das ideale Mobbing-Opfer für die Dorfjugend. Nur Teresa ist ihm eine treue Freundin, gegen den Willen ihres – wohlhabenden – Vaters.

Die Juden kommen ins Dorf

Es ist noch Krieg in Italien, Mussolinis Faschisten geben den Ton an. Auch Davides Vater ist Faschist. Eines Tages bringt ein Bus Juden aus Neapel in das abgelegene Dorf. Die anfängliche Abneigung gegen die unwillkommenen Gäste weicht allmählich der Gewöhnung.

Die Dreier-Freundschaft

Für Davide ist die Ankunft der Juden schicksalhaft. Ein gleichaltriger Junge, Nicolas, fasziniert ihn. Und dessen Vater, ein Lehrer, lehrt ihn Schreiben und Lesen. Nicht einmal die Schläge des Vaters und der grausame Tod seines Lieblingsebers können Davide vom Lernen abhalten. Nicolas wird zum Freund, zum Dritten im Bund von Teresa und Davide. Das ungleiche Trio erlebt einen unbeschwerten Sommer. Davide ist glücklich – bis er Teresa und Nicolas bei einem Kuss beobachtet. Das ist das Ende der Dreier-Freundschaft, auch wenn Davide Nicolas hilft, sich vor den Nazis zu verstecken und später sogar mit Teresa intim wird.

Karriere als Schauspieler

Das Dorf ist ihm zu klein geworden, er geht nach Neapel und arbeitet sich mit zähem Ehrgeiz hoch. Der Krieg ist zu Ende, aber die Zeiten sind hart. Trotzdem schafft es der verachtete Junge aus dem Dorf, sich als Schauspieler einen Namen zu machen. Er spielt sein Leben und ist dabei immer auf der Suche nach den verlorenen Freunden. Was ist aus Nicolas geworden, nachdem die Nazis sein Versteck aufgespürt haben? Wo ist Teresa gelandet?

Vor einem neuen Leben

Gianni Solla gibt in seinem ungewöhnlichen Coming-Of-Age-Roman Antwort auf alle Fragen seines jugendlichen und später erwachsenen Ich-Erzählers. Dessen furchtbare Kindheit im Schweinekoben rührt ans Herz. Aber hin und wieder wirkt die Symbolik etwas zu gewollt, überfrachtet. Am Ende eröffnet sich Davide die Chance, mit seiner Kindheit abzuschließen und ein neues Leben zu beginnen.  Nicolas und er haben die Rollen getauscht.

Hineingelesen…

... in das Wiedersehen

Beim Näherkommen empfand ich etweas, das mich anzog und zugleich abstieß, und als das Haus auftauchte, blieb ich stehen, unfähig weiterzugehen. Draußen waren Gegenstände, die von Leben zeugten: ein Schubkarren, ein Eimer, gehacktes Holz, zum Trocknen auf einer Leine gehängte Wäsche. Jemand wohnte dort.
„Guten Tag“, sage ich laut.
Ich versuchte es gleich noch einmal.
„Ist jemand da?“
Dann sah ich ihn.
In Lumpen gekleidet, trat er aus dem Schweinestall. Arme wie Weinstücke. Langes Haar, das die Augen halb verdeckte. Struppiger Bart. Man konnte die Rippen zählen.
Als ich seinen Namen rief, drehte er sich um und sah mich an.
Ich begriff nicht, wie es möglich war, dass er und ich unsere Rollen getauscht hatten. Er lebte in meinem früheren Zuhause als neuer Schweinehirt, als neuer Dorfspinner. Ohne ihn, der an diesem sonnigen Morgen aus dem Schweinestall trat, wäre ich an seiner Stelle gewesen.
„Nicolas, ich bin‘s, Davide“, sagte ich.
Er machte die einzig mögliche Geste: breitete langsam die Arme aus und stand reglos da, als zeigte er sich nackt. Mit Tränen in den Augen ging ich auf ihn zu. Als ich ihn umarmte, spürte ich das Labyrinth seiner Knochen and Rücken und Brust. ER hatte mir ein nees Leben gegeben, während mein Erbe im Gestand der Schweine bestand, der seinem Haar und seinem Bart entströmte. Das wären die Geschenke, die einer dem anderen gemacht hatte. Er hatte mich gerettet, aber ich ihn auch? Er stand da, ohne sich zu rühren, mit hängenden Armen, noch wusste ich nicht, dass er nicht die Kraft hatte, mich an sich zu drücken. Die Energie der Muskeln reichte aus, um einen Blecheimer voll Futter zu schleppen, aber nicht für eine Umarmung.
Als er meinen Namen sagt, war mir, als freute er sich nicht, mich zu sehne, als wären all die Gedanken, die ich ihm in jenen Jahren gewidmet hatte, nur ein Hirngespinst.
In dem Moment ging die Haustür auf, und ein Kind kam heraus. Es sah auch wie Nicolas, schien seinem Körper entwachsen zu sein, wie ein Teil, der abgebrochen und lebendi geworden war.
„Warum bist du hier?“ frage er mich.
„Um dich wiederzufinden.“

Info Gianni Solla. Bei Licht ist alles zerbrechlich, Diogenes, 312 S., 24 Euro

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