Die wenigsten Österreicher wissen, dass im ersten und zweiten Weltkrieg im niederösterreichischen Hirtenberg die größte Munitionsfabrik Mitteleuropas stand. In ihrem Roman „Was bei uns bleibt“ holt die Wienerin Didi Drobna die Fabrik und ihre Geschichte aus der Vergessenheit. Noch Ende 1944 hatten die Nationalsozialisten hier das „KZ-Außenlager Hirtenberg“ errichtet und die rund 400 Zwangsarbeiterinnen in der Patronen-Produktion eingesetzt.
Folgenschwerer Irrtum
Klara freilich, die Protagonistin des Romans, hat sich freiwillig zu der gefährlichen Arbeit gemeldet, die sie mit rund 3000 anderen Frauen teilt. Trotz vieler Erschwernisse ist die junge Frau anfangs stolz auf ihre das Reich stützende Arbeit. Erst als die Frauen aus dem Außenlager hinzukommen und die Aufseher immer brutaler agieren, wird ihr klar, dass sie einem Irrtum aufgesessen war: „Wir dachten, wir wären wichtig. Aber das waren wir nicht. Wir waren austauschbar.“ Als das Ende der Fabrik droht und das Lager aufgelöst wird, fasst Klara einen folgenschweren Entschluss…
Unterschiedliche Perspektiven
Didi Drobna lässt in ihrem mehrstimmigen Roman nicht nur die junge Klara zu Wort kommen, sondern auch die inzwischen 84 Jahre alte Klara, die mit ihrem erwachsenen Enkel Luis zusammenlebt. In den Chor der Erzählstimmen reihen sich neben Luis auch der Nachbar Horst mit ein und seine Tochter Dora, ein ungebärdetes Mädchen, dessen verschwundene Mutter als eine Art „Wolfskind“ den Krieg im Wald überlebt hat.
Das große Schweigen
Je älter Klara wird und je hilfloser sie sich fühlt, desto stärker werden ihre Erinnerungen an jene Zeit in Hirtenberg. Nie hat sie mit Luis darüber geredet, nie hat er die Großmutter nach ihrem Leben im Krieg gefragt. Und als sie jetzt zu erzählen beginnt, ist es für den 32-Jährigen fast unerträglich. Es gehe nicht immer nur darum, dem Thema NS-Vergangenheit nachzuspüren, sondern sich selbst, sagt Drobna. Wer sich selbst verstehen wolle, müsse auch die Geschichte der Großeltern und der Eltern verstehen.
Differenzierte Charaktere
Das gilt auch für Dora, die über die alte Klara auch der Geschichte ihrer Mutter näher kommen kann. Nur weil sich die vier Menschen gegenseitig Halt geben, können sie das Schweigen überwinden. Didi Drobna verurteilt nicht, sie lässt Klara ihre Würde, stellt die Charaktere der jungen Frau und ihrer Kolleginnen differenziert dar. Gerade deshalb macht dieser Roman so betroffen. Zeigt er doch auch, wie wichtig es ist, die Mauer des Schweigens zwischen den Generationen zu durchbrechen.
Hineingelesen…
… in Klaras Reise in die Vergangenheit
Der Weg mündete in braches Feld. Ein Dreivierteljahrhundert war vergangen und der Grund erholte sich nur langsam. Eine kahle Grassteppe, die sich in alle Richtungen erstreckte.
Es war lange her, dass Klaras Füße dieses Gelände berührt hatten, ihre Lunge diese Luft atmete. Sie erkannte alles sofort. Ein Schauplatz ihres Lebens. Der Lindenberg wölbte sich im Nordwesten, an ihm zogen sich die Weinberge Hoch. Sie machte ein paar Schritte in die Wiese hinein. Die Weite bedrückte sie, ihr wohnte eine große Einsamkeit inne. Alles zerfiel.
Klara spürte, dass Luis sie beobachtete. Er ging neben ihr her, als wartete er darauf, dass sie schwach wurde. Sie merkte, wie ihn nach und nach ein Gefühl überkam, wie es wohl alle Kinder und Enkel irgendwann ereilte. Die Erkenntnis, ja, so gar das Verständnis dafür, dass die Eltern und Großeltern ein Leben davor gelebt hatten. Ein Leben, das den Nachkommen verborgen blieb. Der blinde Familienfleck.
Klara konnte sich vorstellen, dass es in ihm arbeitete. Er pendelte zwischen Zorn und Zärtlichkeit. Seine Züge spannten sich an und entspannten sich wieder. Es musste entlarvend sein, die Hüter der eigenen Kindheit entblößt und knietief in der eigenen Geschichte waten zu sehen. Sie gab sich Mühe, unbewegt zu bleiben. Dabei wackelte alles. Die Bilder in ihrem Kopf zitterten, aber auch sie selbst. Sie steckte die Hände in die Jackentaschen, um es vor Luis zu verbergen.
Klara hielt Ausschau nach Gedenktafeln, Schildern, Hinweisen auf die Vergangenheit. Sie fand keine. Der ganze Ort lebte ohne Erinnerungszeichen. Aber das flache Land erinnerte sich deutlich.
Nach und nach ließ sich Luis ein paar Längen zurückfallen und begab sich selbst auf die suche. Nie entfernte er sich weit, er blieb in ihrer Nähe und lief nur kurz an die Ränder des brachliegenden Terrains. Sie sah ihn in die Hocke gehen, dann rief er sie aufgeregt herbei. Ein wenig abseits hatte er die Überreste einer Mauer entdeckt. Er zeigte auf einen Steinhaufen, der eine Ecke bildete. Irgendwann mussten das zwei Wände mit einem gemeinsam geteilten Winkel gewesen wein. Verwittert und zugewachsen, die Risse vom Moos erkämpft. Das Echo eines Gebäudes.
„Fast zwei Jahre hab ich in Hirtenberg gelebt“, sagte Klara.
Neben ihnen rauschten Autos über die Hauptstraße.
„Hast du in der Fabrik gearbeitet?“
„Ja. Dort oben.“
„Nicht im Dorf?“
„Nein. Wir waren am Lindenberg.“ Sie sah nachdenklich auf die Mauerreste nieder. „Wir und die Frauen aus dem KZ.“
Luis hielt seine Züge gerade, sein Gesicht verriet nichts.“
„Sie nannten es Arbeitslager.“
Luis schwieg.
„Lass uns hochgehen. Hier gibt es weiter nichts.“
Info Didi Drobna. Was bei uns bleibt, Piper, 256 S., 20 Euro
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