„Ich dachte immer noch es gäbe so vieles nachzuholen, so vieles zu erklären, noch lebte er, aber das war das Furchtbare an seinem allmählichen Entgleiten, dass es zu spät war.“
Frieda hat ihre berufliche Laufbahn als Geschichtslehrerin beendet, ihr Vater Theo ist am Rand des Todes. Zeit für eine Annäherung. Davon erzählt Anna Mitgutsch in ihrem neuen Roman, dem zehnten, den diese außergewöhnliche Autorin veröffentlicht hat. Auch hier legt sie den Finger in die Wunden und lässt trotzdem ihren – oft schwachen – Charakteren ihre Würde. Das gelingt ihr, indem sie die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählt, aus der Perspektive der lange zurückgewiesenen Tochter und aus der des allwissenden Erzählers, der die Geschehnisse objektiviert.
Entfremdete Familie
Friedas Besessenheit, die Wahrheit über die Rolle ihres Vaters bei den Kriegsgräueln der Wehrmacht zu erfahren, hat ebenso zur Entfremdung zwischen Vater und Tochter beigetragen wie die allzu schnelle Heirat des Vaters nach dem Tod der Mutter und die hasserfüllte Eifersucht der neuen Frau, Berta, auf die widerspenstige Tochter. Berta zwingt den willenlosen Theo, den Kontakt zu Frieda abzubrechen. Doch als der Mann hinfälliger wird, lässt sie widerwillig einen neuen Versuch der Annäherung zu.
Ein Jahrhundert in Jahreszeiten
Mitgutsch hat ihren Roman in fünf Kapitel gegliedert, allesamt nach Jahreszeiten benannt. Die Geschichte beginnt im Winter und endet im folgenden Winter. Dazwischen – im Frühling und Sommer – erlebt der greise Theo dank der lebensklugen, ukrainischen Pflegerin Ludmila eine Art zweiten Frühling, ein Glück, das die beiden konkurrierenden Frauen Frieda und Berta als Affront betrachten. Als Ludmila Theo verlässt, ist es Herbst und der alte Mann, dem Ende nahe, beauftragt die Tochter, die Pflegerin zurückzuholen – aus dem Land, wo er als Wehrmachtssoldat gekämpft hat. Als Reiselektüre gibt er ihr sein Kriegstagebuch mit. So bekommt Frieda schließlich doch noch – wenn auch zu spät – Antwort auf ihre Fragen.
Eingekapselte Welt
Die äußere Handlung beschränkt sich auf die Zeit von Winter zu Winter. Doch die Autorin lässt dazwischen nicht nur die Geschichte der Familie aufleben, sie erzählt die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Und doch ist „Annäherung“ vor allem der Roman einer gescheiterten Beziehung. Beide, Vater und Tochter, sind so „locked in“ in ihrem Leben, dass sie nicht zu einander kommen können. Der wortkarge Theo, der sich seiner zweiten Frau Berta ebenso klaglos und unhinterfragt unterordnet wie früher seinen Wehrmachtsoffizieren und nichts so sehr herbeisehnt wie familiäre Harmonie und die in der eigenen Familie gescheiterte Tochter, die dem Vater den Krieg und seine Ehe mit Berta nicht verzeihen kann und der dessen Liebe doch das Wichtigste wäre.
Wie Anna Mitgutsch Erzählstränge verwebt, Raum und Zeit ineinander fließen lässt und dabei ihren Figuren immer ganz nahe bleibt, das ist große Kunst.
Info: Anna Mitgutsch. Die Annäherung, Luchterhand, 442 S., 22,90 Euro
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