Anfangs wollte kein Verlag die Texte von Alex Schulmann veröffentlichen. Also begann er als Blogger, denn schreiben war für ihn existentiell. Er schrieb über sich, sein Leben, seine Erfahrungen – und hatte Erfolg. Heute ist der 1976 geborene Schwede einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Der Durchbruch gelang ihm mit „Verbrenn‘ alle meine Briefe“ auch international. Jetzt also ein neuer Schulmann „Endstation Malma“, anders als die Vorgänger und mit einer ganz eigenen Erzählstruktur.
Die Wahrheit der Bücher
„Bücher haben eine eigene Wahrheit“, hat Alex Schulmann in einem Interview gesagt, als er auf die autofiktionalen Inhalte seiner Romane angesprochen wurde. Kindheit ist für ihn alles. Deshalb spielt sie auch in seinen Romanen eine wichtige Rolle. Das ist in „Endstation Malma“ nicht anders. Anders ist aber, dass die Erzählenden aus verschiedenen Generationen stammen.
Ein Zug – drei Generationen
Alles beginnt damit, dass die kleine Harriet mit ihrem Vater im Zug nach Malma fährt, ein schüchternes, verunsichertes Mädchen. Schon im nächsten Kapitel ist sie eine Frau, die sich scheinbar selbstbewusst über gesellschaftliche Normen hinwegsetzt – auch auf der Zugfahrt, auf der sie Oskar begegnet, der diese für die beiden entscheidende Episode erzählt. Und wieder ein Kapitel später ist es die unsichere, dickliche Yana, die im Zug sitzt, weil sie dem eigenen Leben auf die Spur kommen will.
Die Last der Vergangenheit
Alex Schulmann lässt diesen Zug durch die Zeit fahren – und durch die Erinnerungen der Protagonisten: Harriet, Oskar, Yana. In ihren so unterschiedlichen Rückblicken ändert sich die Vergangenheit ständig. Die Verletzungen aus der Kindheit sind die Narben der Gegenwart. Traumata, die bis in die nächste Generation fortwirken, müssen aufgearbeitet werden. Schnell wird klar, dass die Schicksale dieser drei Protagonisten miteinander verwoben sind – auch wenn Jahrzehnte zwischen den einzelnen Episoden liegen. Das Bindeglied ist der Zug nach Malma.
Kleiner Trost am Ende
Es sind bewegende Geschichten, die Schulmann hier auf ganz eigene Art erzählt und zu einer großen Geschichte zusammenbringt. Zu einer Herz ergreifenden Geschichte über Kindheit, Familie und die Risiken des Zusammenlebens. Ein großer Roman mit einem erstaunlich tröstlichen Ende.
Hineingelesen…
… in Kindheitserinnerungen Harriet ist nicht mehr erreichbar. Sie ist wieder in ihrer Kindheit, er kennt sie und sieht es ihren Augen an, wenn es sich nicht einmal lohnt, es zu versuchen. Dann ist es, als tastete sie sich mit dem Blick nach innen, um behutsam zu untersuchen, was sie sich ansehen möchte und was lieber nicht.
„Hier habe ich gesessen“, sagt sie jetzt und legt die Hand auf das schwarze Metall der Bank.
Er setzt sich neben sie. Sie zieht ein Foto aus der Handtasche und zeigt es ihm, darauf ist sie als Kind zu sehen. Sie steht vor der Bank, an diesem Bahnhof, vor langer Zeit. Sie schaut direkt in die Kamera, sie lächelt, aber man sieht ihr an, dass sie den Tränen nahe ist.
„Ist das von eurer Reise damals?“
„Ja. Ich habe es in einem Fotoalbum gefunden, das mein Vater und ich nach der Reise gemacht haben.“
„Wieso siehst du so traurig aus?“
„Mein Vater hat mich fotografiert, obwohl ich das nicht wollte.“
Oskar schaut sich das Foto an, es greift ihm ans Herz. Er sieht ihre Augen, ihren Gesichtsausdruck, es ist der Moment, kurz bevor ein Kind zusammenbricht. Harriet ist mit ihrem Vater und dennoch ganz allein auf diesem Bahnhof. Ihr Vater nimmt sie nicht etwa in den Arm, als sie traurig ist, er fotografiert sie stattdessen. Oskar schließt die Augen. Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten.
Der Wind kommt und geht, zerrt an den Markisen und knallt ein zur menschenleeren Straße hin geöffnetes Fenster zu. Der Bahnsteig liegt verlassen da, und der Sommer ist schwer.
„Weißt du, wann ich mich in dich verliebt habe?“ fragt Harriet.
„Nein.“
„Wieso haben wir nie darüber gesprochen? Es war an dem Tag, an dem wir in der Wohnung waren, wo ich als Kind gelebt habe“, sagte sie. „Weißt du noch?“
Er lacht auf.
„Ja, du warst krank, du hattest Fieber. Wir saßen anschließend die ganze Nacht auf dem Balkon.“
„Frag mich irgendwas zu diesem Abend. Ich bin zur Toilette geangen, und als ich rauskam, standest du vor der Tür und hast auf mich gewartet. Ich war total baff, wusste nicht, was du dort wolltest. Du meintest, es wäre so eine Zeitverschwendung, wenn ich allein zum Balkon zurückging. Du wolltest unsere gemeinsame Zeit nutzen.“
Er schüttelt den Kopf und lächelt.
„Was ist?“, fragt sie.
„Ganz schön albern.“
„es war das Schönste, was jemals ein Mensch zu mir gesagt hat.“
Info Alex Schulman. Endstation Malma, aus dem Schwedischen von Hanna Granz, dtv, 316 S., 24 Euro
Keine Kommentare