Poetisch und empathisch erzählt die irische Autorin und Booker-Preisträgerin Anne Enright in ihrem neuen Roman „Vogelkind“ von Mutter und Tochter, die um ihre Selbstermächtigung ringen. Dabei wechselt Enright fast sprunghaft die Perspektiven zwischen der Tochter Nell, ihrer Mutter Carmel und deren Vater Phil. Der später mit seinen Gedichten berühmt gewordene Ire hat seine Familie verlassen, als seine Frau an Krebs erkrankte.
Im Stich gelassen
Kein Wunder also, dass die Beziehung kompliziert ist. Carmel ist das Vogelkind aus dem gleichnamigen Roman und zugleich eine Figur aus einem Gedicht des Vaters: „Das Vogelkind/Sah heraus/Aus der Höhle/Meiner Faust/Und hielt still“. Die Kleine ist Phils Liebling, auch wenn er schon im Gedicht den Abschied vorwegnimmt: „Der Rückstoß/Kaum zu spüren/Als sie aufstieg/Weg von mir“. Doch für Carmel war es der Vater, der sie im Stich gelassen hat. Und so fühlt sie sich auch als Erwachsene, unfähig für Beziehungen. Die scheinbar flatterhafte Tochter Nell scheint diese Unfähigkeit geerbt zu haben und sucht sich die falschen Männer aus.
Komplexes Beziehungsgeflecht
Mit dem Wechsel an Perspektiven, die sie auch stilistisch unterschiedlich gestaltet, lädt Anne Enright die Lesenden dazu ein, die Lebensentwürfe der Protagonisten zu vergleichen. Nell, die ihr Geld mit dem Schreiben von Reisetexten über Länder verdient, die sie nie gesehen hat, erzählt in der Ich-Form von ihrem gegenwärtigen Leben („Wir sind die Generation überflüssig. Wir sind Ballast.“). Carmels Stimme, die auch ausführlich in die Vergangenheit führt, übernimmt die Autorin. Und Phil, der als nicht vorhandener Übervater seinen Schatten auf die Frauen wirft, darf seine eigene Version zum komplexen Beziehungsgeflecht beitragen.
Der Großvater im Interview
Anders als die anderen Männer, die in diesem Entwicklungsroman nur Nebenrollen spielen, hallt Phils Stimme nach – nicht nur in den Gedichten, die Enright in den Roman streut. Auch in einem Auftritt, den Carmel auf Youtube gefunden hat. Er sei nie von Irland weggegangen, sagt er da und dass er glaube, er verstünde die Frauen.
Auch Nell entdeckt ein Interview mit Großvater online: „Der Gefragte öffnet den Mund und heraus kommt meine ganze Familie. Sicher, Phils Sprechweise ist ein bisschen gestelzt. Er lebte zu einer anderen Zeit. Nach diesem Interview wird er sich erheben und in eine Welt hinausgehen, in der Prinzessin Diana Rüschenkragen trägt, Telefone nie das Haus verlassen und Brot ausschließlich weiß ist. Trotzdem erscheint er mir so vertraut, als hätte ich ihn persönlich kennengelernt.“
Poetische Funken
Erinnern und Erleben überlagern sich in diesem kunstvoll designten Roman, der zwischendurch poetische Funken sprüht. Es geht um Liebe und Sehnsucht nach Geborgenheit, um das, was das Leben lebenswert macht. Wer sich darauf einlässt, fühlt sich am Ende bereichert.
Info Anne Enright. Vogelkind, Penguin, 302 S., 24 Euro.
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