Gelsenkirchen, die Heimat von Schalke 04, Stadt des Bergbaus und der dicken Luft. Und heute „die ärmste Stadt Deutschlands“ trotz sauberer Luft. Ausgerechnet diese Stadt macht der Schriftsteller Gregor Sander zum Objekt einer Erkundung. In „Lenin auf Schalke“ geht es um den „Osten im Westen“, wie Sanders Freund Schlüppi meint. Schließlich werde es Zeit zurückzugucken. „Weil die aus dem Westen uns seit dreißig Jahren ununterbrochen beschreiben, filmen und betrachten. Die haben uns gedreht und gewendet wie die Schnitzel in der Pfanne und immer noch nichts begriffen.“
Die traurigste Stadtinformation
Auch Sander begreift erstmal nichts, als er in Gelsenkirchen bei Schlüppis Cousine, der „Zonengabi“, absteigt und die Abraumhalden betrachtet. Warum die noch da sind, wenn doch schon längst Schicht im Schacht ist, fragt er Gabis Freund Ömer. „Für zum runtergucken“, sagt der und Gabi ergänzt: „Und wegen der Touristen.“ Darauf wäre Sander nun eher nicht gekommen, so abgetakelt wie sich ihm Gelsenkirchen präsentiert: geschlossene Kneipen, verrammelte Schaufenster, bröckelnde Fassaden. Und „die traurigste Stadtinformation der Welt“ in einer winzigen Bude, die sich tapfer abmüht, Gelsenkirchen etwas Sehenswertes abzugewinnen.
Empathie für die Stadt der Abgehängten
Außer Schalke, aber die sind ja inzwischen auch abgestiegen. Kein Wunder, dass bei den Fans in der Friesenstube die Abstiegsangst umgeht. Dass es ausgerechnet ein Trainer, der vom FC Augsburg entlassen wurde, richten sollte, erscheint auch Sander absurd. So absurd wie vieles in dieser Stadt der Abgehängten, für die er immer mehr Empathie empfindet, während er Gelsenkirchen durchmisst – vom Stadtmarketing bis zur Bergwerksdirektorenvilla.
Die Toten und die Erinnerung
Zeitweise begleitet ihn der tote Ruhrgebiets-Kabarettist Jürgen von Manger alias Tegtmeier – auch mit flotten Sprüchen. Und dann das: ein beflaggter Ehrenfriedhof nahe des Schalker Markts, wo der Verein einst gegründet wurde. 1904 Grabstellen zur Erinnerung an das Gründungsjahr des Vereins 1904 und an längst vergangene glorreiche Zeiten für die Fußballer und für die Stadt.
„Lenin auf Schalke“ ist ein humorvoller, warmherziger und gerade deshalb erschreckender Armutsbericht in Form eines Romans. So abgrundtief arm hätte sich Sander das Objekt seiner West-Erkundung nicht vorgestellt. Am Ende ist ihm die Stadt fast ans Herz gewachsen: „Den nächsten Westdeutschen, der uns fragt, wo wir den Tag des Mauerfalls verbracht haben, der sich wärmen will am Lagerfeuer unserer Erinnerung und nichts wissen will vom Davor und Danach, den fragen wir: Und wo warst du, als in Gelsenkirchen die Lichter ausgingen? In der Stadt, die die Kohle geliefert hat für den Reichtum zwischen Hamburg und München?“
Info Gregor Sander. Lenin auf Schalke, Penguin 186 S., 20 Euro
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