Der Junge und die Toten

5. Oktober 2023

Nicht von dieser Welt, so auch der Titel des Romandebüts von Michael Ebert, scheint für den 13-jährigen Ich-Erzähler Mischa die 17-jährige Sola. Das dunkelhäutige Mädchen kommt im Rahmen eines deutsch-französischen Schüleraustauschs in Mischas Leben und wird zu einer Seelenverwandten.

Nahe am Tod

Sola öffnet ihm nicht nur die Türen zu einer neuen Welt, sondern auch zu seinem Innersten, wo er den Kummer um den Freitod des Vaters vergraben hat. Dabei kommt Mischa ständig mit dem Tod in Berührung, wohnt er doch mit seiner Mutter in der Personalwohnung eines Krankenhauses, in dem jeden Tag Menschen sterben. Nicht nur Alte, auch Einsame, Unfallopfer, Wasserleichen. Mischa sieht sie kommen und gehen – und er wird sie nicht los. Denn sie nutzen den Jungen als Verbindung zum Leben.

Das Abenteuer

Darüber reden kann der Junge nicht. Auch nicht in den innigsten Momenten mit seiner Mutter. Erst bei Sola, dem Mädchen aus Zaire, kann er sich öffnen. Die selbstsichere, lebenslustige Sola nimmt Mischa ernst und zeigt ihm, dass es ein Leben außerhalb von Schule und des Krankenhauses gibt. Ja sie überredet ihn kurz nach der Wende, mit ihr nach Halberstadt zu fahren, um dort den in einem Stollen vergrabenen Staatsschatz der DDR zu finden – und reich zu werden. Das funktioniert zwar alles nicht wie geplant, aber der 13-Jährige wächst bei dem Abenteuer über sich hinaus. Das Erlebnis wird ihm noch lange in Erinnerung bleiben ebenso wie die Sehnsucht nach Sola und ihrer unbändigen Lebensfreude.

Fakten und Fiktion

Michael Ebert, heute Chefredakteur des SZ-Magazins, ist selbst in einem Krankenhaus groß geworden. Sein Buch ist eine Mischung aus Fakten und Fiktion mit Ausflügen in den magischen Realismus. Eine ganz eigene Version einer Coming-Out-Geschichte ohne Scheu vor anrührenden Sätzen wie „Trauer ist Liebe, die kein Zuhause mehr hat“ oder „Unser Selbstbild ist ein Porträt, das wir bei uns selbst in Auftrag gegeben haben“.

Schreiben als Therapie

Man spürt, dass sich hier ein Autor einiges von der Seele schreibt – die Trauer um den kürzlich verstorbenen Vater und den Verlust der gemeinsamen Zeit. Für Michael Ebert, so sagt er selbst, war das Schreiben eine Art Therapie. Der Roman wurde zur Spielwiese, auf der er mit den verschiedenen Genres, mit Erinnerungen und historischen Fakten jonglieren konnte.
Auch das Abenteuer in Halberstadt hat einen wahren Kern, auf den  Michael Ebert vor Jahren bei einer Redaktionskonferenz stieß. 1990 wurden demnach tatsächlich über 100 Milliarden Ostmark in einem Stollen bei Halberstadt vergraben. Inzwischen ist der Stollen aufgelöst, das wertlose Geld verbrannt.

Hineingelesen…

… in Mischas Erwachen

Durch meinen Kopf wirbelten die Erinnerungen an die vergangenen Tage wie Artisten bie einer Zirkusaufführung. Ich hatte beinahe zum ersten Mal in meinem Leben die Brüste eines Mädchens berührt und war dafür fast erschlagen worden von einem Alten ohne Hoe. Der wahrscheinlich wegen mir starb. Ich war ein ein Haus eingebrochen und wurde anschließend vom Besitzer desselben Hauses verarztet. Ich hatte meine Mutter angelogen, mehr als einmal. Ich hatte ein unheimliches Buch mit unheimlichen Nackten gesehen, zu dem mich ein Toter geführt hatte und das nicht brennen wollte. Ich besaß mehr Geld, als meine Familie je besessen hatte, und konnte es nicht ausgeben. Ich war mit einem Mäedchen ohne Führerschein durch Halb Deutschland gefahren ohne zu wissen warum. Jede einzelne dieser Erinnerungen war noch ganz frisch, aber zugleich waren sie schon wieder unscharf. War das wirklich alles passiert? Für den Moment nahm ich die Welt einfach an, wie sie war, für alles andre fehlte mir die Kraft. Unmögliches war lange schon möglich, Undenkbares passierte einfach. Und was davon ich mir selbst später noch glauben würde, konnte ich in dem Moment nicht sagen.

Info Michael Ebert. Nicht von dieser Welt, Penguin,  236 S., 24 Euro

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