Der in Deutschland eher unbekannte französische Schriftsteller Hervé Le Tellier wurde 2020 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet. Dank des Romans „Die Anomalie“, der inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist.
Eine Reihe von Personen
Das Buch beginnt eher verwirrend als spektakulär. Kapitelweise treten Personen auf, als erster der Profikiller Blake. Dann auch der erfolglose Schriftsteller Victor Miesel, der in seinem Abschiedsbrief am Wert seiner Existenz zweifelt. Auch die attraktive Lucie, eine alleinerziehende Mutter tritt auf, der todkranke David oder die kleine Sophia.
Das Jahrhundert-Unwetter
Es wäre gut, wenn die Lesenden diese Porträts für die folgenden Seiten im Gedächtnis behielten. Denn all diese Menschen fliegen am 10. März 2021 von Paris nach New York. Nichts Besonderes heutzutage. Doch ein Jahrhundert- Unwetter verändert alles, auch wenn die Passagiere bei der Landung in den USA erst einmal nur froh sind überlebt zu haben und in ihren Alltag zurückkehren.
Doppelte Identitäten
Sie können ja nicht wissen, dass sich das Flugzeug während des Unwetters verdoppelt hat. Aus unerfindlichen Gründen fliegt die Zwillingsmaschine erst im Juni den Airport an und wird wegen der anomalen Auffälligkeiten auf eine Militärbasis umgeleitet. Schnell wird klar, dass sowohl Flieger als auch Insassen identisch mit der im März gelandeten Maschine sind.
Rätsel für Wissenschaft und Religion
Wie kann das sein? Wissenschaftler und Geistliche rätseln, und der Präsident schnaubt, weil er weder von Wurmlöchern noch von einer möglichen Simulation etwas versteht. Da gibt es Passagen, die trotz der ungeklärten existentiellen Frage urkomisch sind.
Das Schicksal der Doppelgänger
Doch wie reagieren die verdoppelten Personen? Wie können sie damit leben, dass sie nicht einzigartig sind? Was passiert, wenn sich die März- und Juni-Versionen gegenüber stehen? Da hat Hervé Le Tellier die unterschiedlichsten Antworten.
Bis zum Schluss überraschend
Für den Schriftsteller Victor Miesel, dessen März-Version sich das Leben genommen aber vorher noch einen Roman geschrieben hat, ist die Verdoppelung eine neue Chance. Zumal er jetzt berühmt ist, weil er die Anomalie praktisch voraus gesehen hatte. Für den Killer Blake ist der andere eine Bedrohung, die er elimieren muss, für Lucie womöglich ein Neuanfang.
Hervé Le Tellier weiß zu überraschen – bis zum Schluss. Der Roman ist so komplex wie großartig – ein großer literarischer Wurf.
Hineingelesen…
… in Erklärungsversuche
– Was Sie da erzählen, ist lächerlich, platzt der Präsident heraus. Ich bin kein Super Mario, und ich werde unseren Mitbürgern auch nicht erklären, dass sie Programme in einer virtuellen Welt sind.
– Ich verstehe, Herr Präsident. Aber andererseits ist ein Flugzeug, das aus dem Nirgendwo auftaucht und die exakte Kopie eines anderen ist, mit all seinen Passagieren und bis hin zum kleinsten Ketchup-Fleck auf dem Teppichboden, auch unwahrscheinlich. Erlauben Sie mir, Ihnen die Formel zu erklären, die ich aufgeschrieben habe.
– Machen Sie schon, entfährt es dem Präsidenten wütend. Aber schnell.
– Ich erkläre Ihnen die Grundidee. Ich möchte Ihnen zeigen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir mit unserem Bewusstsein Teil dieser Simulationen sind. Einer technischen Zivilisation eröffnen sich nur drei mögliche Schicksale: Sie kann natürlich aussterben, bevor sie die technologische Reife erreicht hat, wofür wir mit der Umweltverschmutzung, der Klimaerwärmung, dem sechsten Sterben und so weiter ein großartiges Beispiel abgeben. Ich für meinen Teil denke, dass wir, obsimuliert oder nicht, untergehen werden.
Der Ptäsident zuckt mit den Schultern. Aber Wesley fährt fort:
– Aber das ist nicht das Thema. Nehmen wir trotz allem an, dass jede tausendste Zivilisation sich nicht selbst zerstört. Sie erreicht ein posttechnisches Stadium und versieht sich mit einer unvorstellbaren rechnerischen Leistungsstärke. Und nehmen wir weiter an, dass unter diesen überlebenden Zivilisationen eine einzige von tausend den Wunsch hat,die „Vorfahren“ oder „Konkurrenten ihrer Vorfahren“ zu simulieren: dann wird diese eine von einer Million technischer Zivilisationen ganz alleine in der Lage sein, sagen wir, eine Milliarde „virtueller Zivilisationen“ zu simulieren. Und unter „virtueller Zivilisation“ verstehe ich jeweils Hunderte von virtuellen Jahrtausenden, während derer Millionen von virtuellen Generationen aufeinanderfolgen, die Hunderte von Milliarden denkender Wesen in die Welt setzen werden, die ebenso virtueller Natur sind. Ein Beispiel: In den fünfzigtausend Jahren ihres Daseins sind weniger als hundert Milliarden Cro-Magnon-Menschen über die Erde gewandert. Die Cro-Magnon, also uns, zu simulieren, ist eine einfache Frage der Rechenkapazität. Folgen Sie mir?
Wesley schaut nicht auf den Bildschirm, wo der Präsident die Augen zum Himmel verdreht, und fährt fort:
– Was zählt, ist Folgendes: Eine hypertechnisierte Zivilisation kann tausendmal mehr „falsche Zivilisationen“ simulieren, als es „echte“ gibt. Was bedeutet: dass, wenn man sich aufs Geratewohl ein „denkendes Hirn“ herausgreift, meines, Ihres, die Chancen so stehen, dass es sich in 999 von 1000 Fällen um ein virtuelles Gehirn handelt und in einem von tausend, dass es ein echtes ist. Anders gesagt, das „Ich denke, also bin ich“ aus Descartes‘ „Discours de la méthode“ ist obsolet. Vielmehr gilt: „Ich denke, also bin ich ziemlich sicher ein Programm.“ Descartes 2.0 um die Formel einer Topologikerin aus unserer Gruppe zu zitieren. Können Sie mir folgen, Herr Präsident?
Der Präsident sagt nichts. Wesley beobachtet ihn, wie er in seiner trotzig wütenden Haltung verharrt, und schließt:
-Sehen Sie, Herr Präsident, ich kannte diese Hypothese, und bis zum heutigen Tag schätzte ich die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Existenz nur ein Programm auf einer Festplatte sei, mit eins zu zehn ein. Nach dieser „Anomalie“ bin ich mir so gut wie sicher. Das würde im Übrigen Fermis Paradoxon erklären: Wenn wir niemals Außerirdischen begegnet sind, dann nur, weil deren Existenz in unserer Simulation nicht vorprogrammiert ist. Ich denke sogar, dass wir mit einer Art Test konfrontiert sind. Weiter gedacht, könnte es sein, dass die Simulation uns, eben weil wir uns nunmehr vorstellen können, Programme zu sein, diesen Test vorschlägt. Und es liegt in unserem Interesse, ihn zu bestehen oder wenigstens etwas Interessantes daraus zu machen.
Info Hervé Le Tellier. Die Anomalie, Rowohlt,346 S., 22 Euro
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