Das Ende der Sprachlosigkeit

2. Oktober 2020

Celeste Ng  war mit „Kleine Feuer überall“ eine literarische Sensation gelungen.  Der Roman wurde zum Bestseller und als TV Serie verfilmt.  „Was ich euch nicht erzählte“  ist ihr erster Roman, auch er hat das Zeug zum Bestseller:  Es scheint das Glück auf Lebenszeit: Als die ehrgeizige Studentin Marilyn den chinesisch-stämmigen Professor Lee heiratet, sieht sie sich noch vor einer großen Zukunft als Ärztin. Doch dann bekommt James Lee nicht die erhoffte Stelle in Harvard, sondern muss ich mit einer Professur in der Provinz zufrieden geben, es kommen Kinder, und Marilyn verzichtet darauf, weiter zu studieren.

Ausgrenzung und Ehrgeiz

James, Sohn nach den USA eingewanderter Chinesen, hat von Kind an gespürt, dass er anders ist, hat Ausgrenzung erfahren. Dass Marilyn ausgerechnet ihn liebt, erscheint ihm wie ein Wunder. Und wie viele Menschen mit Migrationshintergrund will sich James in seiner neuen Heimat integrieren. Er ist amerikanischer als die Ur-Amerikaner. Marilyn dagegen, die mit ihrer Ehe den Kontakt zu ihrer Mutter verloren hat, leidet darunter, ihre eigenen Ziele nicht erreicht zu haben.

Bild einer perfekten Familie

Sie fürchtet, als unbedeutende Hausfrau zu enden und überträgt ihren ganzen Ehrgeiz auf die Tochter Lydia, schön, klug und scheinbar ähnlich ehrgeizig wie die Mutter. Die anderen beiden Kinder, Sohn Nathan und die kleine Hannah, erfahren dagegen kaum Beachtung. Es bleibt so vieles ungesagt in dieser nach außen hin so perfekten Familie. Die amerikanisch-chinesische Autorin Celeste Ng („Kleine Feuer überall“) kennt vieles, was sie da beschreibt, wohl aus eigener Erfahrung: Den Rassenhass, die Überangepasstheit, die schwierige Selbstfindung.

Hohe Erwartungen

In Retrospektiven erzählt sie auch von der chinesischen Einwanderungswelle im 19. Jahrhundert. Für Lydia aber, die ihren Eltern ein ganz anderes Leben vorspiegelt, während sie verzweifelt versucht, den Anforderungen ihrer Mutter gerecht zu werden, wird der Druck zu groß. Als ihr auch noch der von ihr bewunderte Jack, Sohn einer allein erziehenden Ärztin und Mädchenschwarm, die Augen öffnet, sieht sie für sich keine Zukunft mehr.

Vieles wird verschwiegen

Der Roman mit dem sprechenden Titel „Was ich euch nicht erzählte“, beginnt mit dem Verschwinden Lydias, um zurückzuführen zu den glücklichen Anfängen, zum Ausbruchsversuch Marilyns und zu seinen Folgen. Ngs Roman ist weit mehr als die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung, mehr auch als ein Roman über das Scheitern einer Integration. Es ist die Beschreibung einer gefährlichen Sprachlosigkeit. In dieser Familie sitzt diese Sprachlosigkeit mit am Tisch, auch wenn viel geredet wird. Doch alles, was nicht ins Bild passt, das sich James und Marilyn von ihrem Leben machen, wird verschwiegen.

Einsamkeit in der Kulissen-Welt

Im isolierten Familienkosmos kreist jede und jeder um sich selbst. Auch das, was draußen vor sich geht, ist nebensächlich. Ng schildert die innere Einsamkeit der Familienmitglieder in einer selbst entworfenen Kulissen-Welt mit solcher Intensität, dass die Leser mit ihnen leiden.

Hineingelesen…

in Ng’s Familienkosmos

Nath hingegen saß jeden Tag still am Esstisch, während sein Vater Lydia nach ihren Freundinnen fragte und seine Mutter sich nach ihren Kursen erkundigte. Wenn sie sich ihm pflichtschuldig zuwandten, brachte er keinen Ton hervor, weil sein Vater… nichts vom Weltraum hören wollte. Doch das war alles, was Nath interessierte, und woran er dachte… Nach ein paar gestotterten Antworten schwenkte der Scheinwerfer wieder auf Lydia, und Nath zog sich in sein Zimmer zu seinen Luftfahrtmagazinen zurück, die er wie Pornohefte unter seinem Bett versteckte. Der permanente Zustand des Ausgeblendetseins störte ihn nicht, denn Lydia klopfte jeden Abend stumm und elend an seine Tür. Er verstand alles, was sie nicht sagte und im Kern nur darauf hinauslief: Lass mich nicht los…
Und Lydia – der unfreiwillige Mittelpunkt ihrer Familie – hielt jeden Tag die Welt zusammen. Sie schluckte die Träume ihrer Eltern und unterdrückte den Widerwillen, der in ihr brodelte. Jahre verstrichen. Johnson, Nixon, Ford kamen und gingen. Sie wurde gertenschlank, Nath groß und kräftig. Ihre Mutter bekam Falten um die Augen, ihr Vater wurde an de Schläfen grau. Lydia kannte ihre sehnlichsten Wünsche, auch wenn ihre Eltern sie nicht aussprachen. Jedes Mal schien es nur eine Kleinigkeit, die sie für deren Glück eintauschen musste. Und so lernte sie im Sommer Algebra. Sie zog ein Kleid an und ging zum Abschlussball. Sie schrieb sich im College für Biologie ein, am Montag, Mittwoch und Freitag, den ganzen Sommer lang. Ja. Ja. Ja.
(Und was war mit Hannah? Sie richteten ihr ein Zimmer unterm Dach ein, wo nicht gebrauchte Sachen aufbewahrt wurdne, und selbst als sie älter wurde, vergaß die Familie manchmal, dass es sie überhaupt gab… Als wüsste sie um ihren Platz im Universum entwickelte sich Hannah vom ruhigen Säugling zu einem aufmerksamen Kind: einem Kind, das Winkel und Ecken mochte, das sich in Schränke,  hinter Sofas und unter baumelnde Tischdecken kauerte, dfas aus den Augen und aus dem Sinn blieb, damit das Terrain der Familie sich nicht veränderte.

Info: Celeste Ng. Was ich euch nicht erzählte, dtv, 282 S., 19,90 Euro

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert