Sörensen und die Amokfahrt
Rezensionen , Romane / 2. Mai 2023

Er ist schon ein bisschen unbeholfen, dieser Sörensen. Aber das macht den KHK im fiktiven Städtchen Katenbüll erst so richtig sympathisch. Es menschelt ordentlich in den Krimis von Sven Stricker, der für seinen Krimi „Sörensen hat Angst“ für den Glauser-Preis 2017 nominiert war. Viel um die Ohren Jetzt also: Sörensen sieht Land. Doch bis es soweit ist, dauert es gute 500 Seiten. Denn der schnellste ist der Kriminalhauptkommissar nicht, zumal er sich auch noch um seinen krebskranken Vater kümmern muss. Und dann ist da auch noch die KOKin Jennifer, für die Sörensen schon ein Quäntchen mehr empfindet als Kollegialität. So richtig zusammen kommen die beiden aber trotzdem nicht. Harmlos oder nicht? Denn da kommt was Ungeheures dazwischen – eine Amokfahrt bei einem Stadtfest. Tote, Verletzte, darunter auch Sörensens Vater – und mittendrin der ehemalige Praktikant Malte, der Halter des Wagens. Sörensen mag nicht glauben, dass der harmlose junge Mann zum Amokfahrer geworden war. Und was ist mit der jungen Frau, Swantje, mit der er unterwegs war? Sehnsucht nach Leben Sven Stricker lässt die 21-Jährige, die vom Leben bisher nicht gerade verwöhnt wurde, in Tagebucheinträgen zu Wort kommen. Hass war bei ihr schon da – auf diejenigen, die nicht so hinterwäldlerisch…

Mütter ohne Lobby
Rezensionen , Romane / 30. April 2023

Jessame Chan regt mit ihrem nur leicht dystopischen Roman „Institut für gute Mütter“ zum Nachdenken an – und zu Diskussionen. Denn die amerikanische Autorin nimmt die aktuellen Debatten um Mutterschaft, Feminismus, Rassismus und staatliche Eingriffe ins Privatleben zum Ausgangspunkt einer ebenso spannenden wie deprimierenden Geschichte. Ein Fehltritt und die Folgen Es war nur ein kurzer Fehltritt, der Frida ihre Tochter und ihr Lebensglück kostet. Die alleinerziehende Mutter hat ihr Baby Harriet im Spielsitz zurückgelassen, um berufliche Unterlagen zu holen. Und weil sie wegen Harriet nächtelang kaum geschlafen hat, ist sie einfach länger weggeblieben als geplant. Zwei Stunden vielleicht. Zu lang, das weiß sie selbst. Doch sie war gestresst, versucht sie der Sozialarbeiterin zu erklären. Die hat wenig Verständnis: „Wenn Sie einfach das Haus verlassen möchten, wann immer Ihnen danach ist, sollten Sie sich einen Hund anschaffen und kein Kind.“ Kein Verständnis für Überforderung Die Frau könnte Fridas Überforderung verstehen, wenn sie nur zuhören würde. Sie könnte verstehen, dass Frida darunter leidet, dass ihr Traummann Gust sie wegen einer Jüngeren verlassen hat. Dass sie Angst davor hat, die rothaarige Rivalin könnte ihr Harriet entfremden. Doch weder die Sozialarbeiterin noch der Psychologe wollen verstehen, dass eine Frau nicht rund um die Uhr…

Lebenslügen
Rezensionen , Romane / 15. April 2023

Martin Suter mag es edel.  Auch in seinem neuen Roman  Melody  öffnet er die Tür zu einem stilvollen Haus, in dem der Eigentümer, einst hohes Tier in Politik und Wirtschaft, als gebrechlicher alter Mann residiert. Umhegt von Butler und Köchin. Doch Dr. Peter Stotz reicht es nicht, dass er sich alles leisten kann; er braucht jemanden, dem er imponieren, mit dem er reden kann. Deshalb engagiert er den angehenden Juristen Tom als eine Art Privatsekretär. Verführerischer Luxus Für Tom, der aus kleinen Verhältnissen stammt, ist es der Eintritt in eine neue Welt, in der Geld keine Rolle spielt und  in der alles käuflich scheint – auch Zuwendung. Verwöhnt mit besten Weinen und feinsten Speisen, gewöhnt sich Tom an das Leben im Luxus. Und zunehmend hegt er auch Sympathie für den einsamen Alten, der ihm von seiner großen Liebe erzählt: Melody. Die verschwundene Liebe Ihr Bild findet sich überall in der Villa, oft mit Blumen geschmückt wie ein Schrein. Dabei ist es Jahrzehnte her, dass sie verschwunden ist, kurz vor der Hochzeit und unter Zurücklassen des Hochzeitskleides. War Melody vor ihrer muslimischen Familie geflohen, die sie wegen der Verbindung mit einem Nicht-Muslimen bedrohte?  Wurde sie gefangen gehalten?  Stotz sucht seine verschwundene…

Urlaub mit Folgen
Rezensionen , Romane / 8. April 2023

Daniel Glattauer nimmt in seinem  neuen Roman „Die spürst du nicht“  die Lesenden mit auf eine Achterbahn der Gefühle und am Ende auch mit zu Menschen, „von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren“. Wie viele Tragödien fängt auch diese Geschichte ganz harmlos an. Zwei befreundete Familien fahren in die Toskana, um Ferien in einer noblen Villa mit Pool zu machen: die Binders und die Strobl-Marineks und ihre drei Kinder. Mit dabei ist auch eine Freundin der ältesten Strobl-Marinek-Tochter, Aayana, ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia. Tragödie in der Idylle Alles scheint perfekt, Aayana fällt nicht weiter auf. Die Familien genießen das milde Klima, den Wein, die Urlaubsatmosphäre. Doch die Idylle zersplittert schnell, denn Aayana ertrinkt im Pool. Für die beiden Familien ist der Urlaub vorbei, ihr Leben geht weiter. Aber nichts ist, wie es vorher war. Vor allem die 14-jährige Sophie Luise fühlt sich allein gelassen. Von den Mitschülerinnen gemobbt sucht sie Trost im Internet. Hier lernt sie Pierre kennen, der sie mit seinen Zeichnungen aufmuntert. Über Chats, in denen So-Lu, wie Pierre sie nennt, sein Deutsch verbessert, kommen sie sich näher. Chats und Internet-Kommentare Daniel Glattauer kann das, den speziellen Chat-Sound. Aber auch Twitter-Kommentare, kurze Zeitungsnotizen zu…

Matriarchat am See
Rezensionen , Romane / 3. April 2023

„Männer starben bei uns nicht“, heißt es gleich zu Anfang des neuen Romans von Annika Reich. „Männer kamen und gingen“. Doch in diesem Frauenhaushalt, den Reich in „Männer sterben bei uns nicht“ entwirft, kommt und geht kein Mann. Frauen unter sich Die Frauen in dem Anwesen am See, „das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große,destruktive Lieben“, bleiben in diesem weiblichen Kosmos unter sich: Die alle beherrschende Großmutter, die Enkelin Luise, die als Ich-Erzählerin den Ton angibt, ihre schöne aber gefühlsarme Mutter, die Tante und deren Tochter sowie die Haushälterin Justyna. Eigentlich würde auch noch Luises Schwester Leni dazu gehören, aber die ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Eine Tatsache, die Luise so sehr beunruhigt, dass sie in zwei toten Frauen, die im See angeschwemmt werden, Leni zu erkennen glaubt. Frage der Erinnerung Doch wie zuverlässig ist die Erinnerung? Was war da wirklich mit Luises geliebter und rebellischer Schwester? Bei der Beerdigung der Matriarchin taucht sie jedenfalls auf ebenso wie eine Schwester der Großmutter, von deren Existenz Luise nichts ahnte.  Die Großmutter hatte sie aussortiert, weil sie nicht in ihr am Patriarchat orientiertes System passte – wie Leni. Täterinnen und Opfer Die anderen Frauen spielen…

Am Ende des Lebens
Rezensionen , Romane / 28. März 2023

„Ich liebe ihn sehr“, schreibt Helga Schubert gleich am Anfang zu ihrem „Stundenbuch der Liebe“ mit dem Titel „Der heutige Tag“. Der, den sie sehr liebt, ist ein pflegebedürftiger 96-Jähriger am Rand der Demenz. 66 Jahre kennt sie ihn. 17 ist sie, als sie ihn, den Uni-Assistenten, zum ersten Mal sieht. Erst Jahre später – da ist sie mit einem anderen verheiratet – eröffnet ihr dieser Mann „ein Tor in eine Welt vor meinem eigenen Leben“. Der bewunderte Professor Er ist Professor und hat „Schlag bei den Frauen“ und sie bewundert ihn, wird seine Geliebte und später – nach ihrer und seiner Scheidung – seine Frau.  Derden nennt sie ihn und schreibt, dass er ein Teil von ihr ist – von Anfang an und erst recht als Patient, den sie mit nicht nachlassender Geduld pflegt. Und doch kommt der Tag, an dem er sie nicht erkennt, und es gibt Tage voller Verzweiflung: „Wenn ich Erbarmen mit Derden habe, dann ist die Traurigkeit weich. Und manchmal weine ich um uns beide.“ Dann wieder fragt Derden ganz der alte Egoist: „Was mache ich eigentlich, wenn du tot umfällst?“ Die zweite Kindheit Helga Schubert nimmt es ihm nicht übel, sie weiß, auch sie…

Am Ende der Liebe
Rezensionen , Romane / 28. März 2023

Nein, dieses Paar ist nicht „Das Liebespaar des Jahrhunderts“, wie Julia Schoch im Titel vorgibt. Es ist ein ganz normales Paar mit einer ganz normalen Geschichte. Aber wie die 1974 in Bad Saarow geborene Autorin diese Geschichte erzählt, ist schon etwas Besonderes. Auch, weil vieles, was sie schreibt, so nachvollziehbar ist, so normal. Überschwang der Liebe Julia Schoch spürt in dieser Autofiktion einer Liebe nach, die groß begann und sich im Alltag verliert. 30 Jahre sind die beiden zusammen, und alles beginnt ganz zauberhaft: „Ich liebte dich sofort“. Er ist anders als die anderen, liebt es elegant, will herausstechen. Und sie himmelt ihn an, schneidet sich die Haare ab, um ihm ähnlich zu sein. Denn so ganz kann sie es nicht fassen, dass sie diesen Mann getroffen hat. „Du und ich – das Liebespaar des Jahrhunderts“. Geteilte Erinnerungen Beide kommen aus Ostdeutschland, teilen viele Erinnerungen und brauchen dafür keine Worte. Nach dem Mauerfall nutzen sie die Gunst der Stunde, studieren im Ausland, sammeln jeder für sich neue Erfahrungen. Doch trotz so mancher leuchtender Momente schleicht sich die Ernüchterung ein. Nüchterne Bilanz in Zahlen Sie werden älter und Eltern. Der Alltag verschlingt die Zeit, sie sprechen kaum mehr mit einander und…

Fluch der Kindheit
Rezensionen , Romane / 28. März 2023

Ein Buch wie ein Axthieb: Ehrlich bis zur Selbstaufgabe schildert Matt Rowland Hill in „Erbsünde“ sein Leben mit der Drogensucht. Und man wundert sich, dass dieser Mann trotz allem 39 Jahre alt werden konnte. Elterliche Hölle Der Autor wird als Sohn eines Baptistenpastors und seiner pietistischen Frau in Südwales geboren und erlebt früh den moralischen Druck der Kirche, der ihn allerdings nicht von seiner Lieblingsbeschäftigung abhält: Der Junge masturbiert gern und ausgiebig – eine Art Flucht aus der elterlichen Hölle, in der sich Vater und Mutter Bibelsprüche um die Ohren hauen. Traumatischer Bruch Erst in der Jugend macht der Junge den nächsten Schritt, folgt seinen intellektuellen Zweifeln und bricht mit Eltern und Religion. Aber die Prägung seiner Kindheit klebt an ihm wie die Erbsünde an den Gläubigen. Hill taumelt von einem Extrem ins andere. Er entdeckt die Welt der Drogen und verfällt ihr wie seine Familie der Bibel verfallen war. Spirale von Sucht und Abstürzen Für den begabten jungen Mann beginnt eine Spirale von Drogenträumen, Traumata, Entzugs-Erfahrungen und Chaos. Mal schafft er es zwei Jahre, sich von Drogen fern zu halten. Mal ist er vier Jahre clean, um dann doch einen Rückfall zu erleben, schlimmer noch als alle anderen.  Es…

Das Versprechen des Meeres
Interview , Romane / 26. Februar 2023

Nina Polak stellt in ihrem Roman „Zuhause ist ein großes Wort“ die Ich-Erzählerin Skip vor eine existentielle Wahl. Skip fühlt sich am wohlsten auf dem Schiff und auf hoher See. Durch Zufall trifft sie in Frankreich wieder auf die Familie, mit der sie Kindheitserinnerungen verbindet. Und obwohl inzwischen sieben Jahre vergangen sind, fühlt sich die mittlerweile 30-Jährige in die Vergangenheit zurück katapultiert. Skip muss sich ihr stellen – am besten in Amsterdam, wo sie ihre Kindheit verbracht und bei der begüterten Familie Zeno so etwas wie Geborgenheit genossen hat. Leben zwischen zwei Polen Und wieder erliegt sie dem Charme dieser Familie, dem scheinbar unzertrennlichen Trio aus Patriarch Nico, Schauspielerin Mascha und dem scheuen Sohn Juda. Im Gartenhäuschen der Zenos fühlt sie sich fürs erste angekommen. Aufgewachsen ist sie mit ihrer depressiven Mutter Nellie in einem ärmeren Viertel der Stadt. Nellie und Mascha wurden die Pole, zwischen denen sich Skips Leben an Land abspielte. Und dann war Nellie tot, und Skip floh aufs Meer. Aufgewärmte Liebe Hat sie viel versäumt, fragt sich die junge Frau. Sie trifft Freunde, die sich verändert haben, und den Freund, der inzwischen anderweitig liiert ist. Und doch fühlt sich auch dieser Borg wie Heimkehr an. Skip…

Asche der Erinnerung
Rezensionen , Romane / 23. Februar 2023

„Meine Funktion war sehr einfach: Leiche rein, Asche raus, Knochenreste im Kremulator zermahlen.“ Der da spricht ist Pjotr Nesterenko, Gründer und Leiter des Moskauer Krematoriums, und als Ich-Erzähler in Sasha Filipenkos Roman Kremulator  genannt. Der belarussische Autor siedelt seinen gleichnamigen Roman in der Zeit der stalinistischen Säuberungen an. Nesterenko wird der Spionage für eine feindliche Macht beschuldigt und ausführlichen Verhören unterzogen. Er muss wohl mit der Todesstrafe rechnen. Trotzdem verlaufen die Verhöre „nicht frei von Komik“, wie der Angeklagte notiert. Bühne für persönliche Rückschau Ganz unschuldig daran ist Nesterenko daran nicht. Er nutzt die Verhöre auch als Bühne für seine ganz  persönliche Rückschau. Denn der Mann war nicht nur der Gründer des Moskauer Krematoriums, er stammt aus altem Adel, hat für die Weißrussen gekämpft,  war in Kiew,  ist in Paris Taxi gefahren, arbeitete  in Istanbul und in Serbien. Kurz, er hat so einiges aus der Welt außerhalb der großen Sowejetunion mitgekriegt. Geschichte einer großen Liebe Diese Weltläufigkeit imponiert dem jungen Ermittler Perepeliza und macht ihn doppelt misstrauisch. Was zum Teufel hat diesen Nesterenko dazu getrieben, von einem Ort zum anderen zu reisen, von einem Job zum anderen zu wechseln? Perepeliza ahnt nichts von der großen Liebe, die den Angeklagten seit…