Das Leben ist kein Film
Rezensionen , Romane / 19. Februar 2024

„Ohne meine beruflichen Erfahrungen hätte ich das nicht schreiben können“, sagt Emanuel Bergmann über seinen neuen Roman Tahara. Bergmann war viele Jahre selbst Filmjournalist wie sein Protagonist Marcel Klein. Und die Einblicke in die Welt der Filme und die der Filmkritiker sind mit das Beste an diesem Buch, das von der Sehnsucht erzählt geliebt zu werden. Das Ferkel am Trog Dabei wirkt dieser Marcel Klein, der für ein Filmjournal schreibt, ziemlich abgebrüht. Er liebt zwar das Kino und den Film, aber er verachtet den Star-Rummel ebenso wie seine vorwiegend männlichen Kritikerkollegen, die sich bei den Filmfestspielen in Cannes so wichtig nehmen: „Man war dort nur das Ferkel am Trog, umringt von Kollegen, die alle um dieselben Bröckchen wetteiferten. Aber wenigstens gab‘s da was zu essen. Es konnte nicht schaden, sich gelegentlich auf Kosten anderer durchzufuttern.“ Liebe und Lügen Und das tut Marcel auch ausgiebig, nicht ohne ebenso ausgiebig dem reichlich fließenden Alkohol zuzusprechen. Alles wie immer, bis ihm im Hotel die geheimnisvolle Héloise über den Weg läuft, eine melancholische Schönheit. Marcel ist schockverliebt. So sehr, dass er, der Profi, das Interview mit dem Star der Festspiele vermasselt. Das kostet ihn den Job, weil auch all seine Lügen nichts mehr retten…

Wie Hänsel in Georgien
Rezensionen , Romane / 15. Februar 2024

Leo Vardashvili hat bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Tbilissi gelebt und ist heute in England zu Hause. Sein Roman „Vor einem großen Walde“ führt tief hinein in sein versehrtes Land – und in die georgische Seele. Was für ein Buch: Tragisch, komisch, märchenhaft, gespenstisch. Ein Zauberbuch, das mit einer Schnitzeljagd in Georgien beginnt und mit einem Escape Game in Ossetien endet. Flucht nach England Der Ich-Erzähler Saba ist noch ein Kind, als er mit Bruder und Vater aus den Bürgerkriegswirren in Georgien nach England flieht. Die Mutter muss zurückbleiben, weil das Geld fehlt, aber ihr Fehlen prägt das Leben der Geflüchteten. Der Vater, Irakli, arbeitet sich ab, um sie nachkommen zu lassen, und als er endlich das Geld zusammen hat, verliert er alles an einen Betrüger, einen Landsmann. Dann stirbt die Mutter, ohne ihre Söhne noch einmal gesehen zu haben. Und Irakli, der nie in England Fuß gefasst hat, begibt sich auf Spurensuche in der alten Heimat. Die Geister  der Vergangenheit Als seine Söhne nichts mehr von ihm hören, macht sich der Ältere, Sandro, auf die Suche. Doch auch von ihm kommt irgendwann keine Nachricht mehr – und so reist Saba ihm nach. Schon am Flughafen fühlt er sich…

Himmel und Hölle
Rezensionen , Romane / 7. Februar 2024

Peter Grandl bleibt in seinen Thrillern stets nah an der Realität, das macht sie umso beängstigender. Auch der neueste Wälzer aus der Grandl-Werkstatt „Höllenfeuer“ ist keine Science Fiction, sondern in unserer Gegenwart angesiedelt – teilweise sogar mit Klarnamen: Ein Islamist verübt in einer Münchner U-Bahn einen Anschlag, der über 300 Opfer fordert. War der bayerische Innenminister mit dem bezeichnenden Namen Himmel das Ziel? Der Politiker fährt jeden Montag mit der U-Bahn statt mit dem Dienstwagen in die Staatskanzlei. Glaubenskrieg und Höllenfeuer Schon der Titel des Thrillers, Höllenfeuer,  zeigt, welche Dimension der Autor anstrebt, und die Kapitelüberschriften Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium verweisen auf den Pentateuch, die fünf Bücher Mose. Allerdings geht es auf den 472 hochspannenden Seiten nicht um Israel, die Juden oder Antisemitismus. Es geht um islamische Terroristen, die den Glaubenskrieg mitten hineintragen wollen in die deutsche Bevölkerung – mit Feuer, Schwert und Gift. Die Folgen von Nowitschok Der Attentäter in der U-Bahn hat eine Substanz versprüht, die eine indische Ärztin, schnell als Nowitschok identifiziert, eine hochgiftige Substanz, die bei dem Mordversuch an Sergej Skripal eingesetzt worden war. Ein Lockdown für München ist die Folge der Entdeckung. Doch davon lassen sich die Terroristen nicht von weiteren Morden abhalten. Genauso…

Der alte Mann und das Tier
Rezensionen , Romane / 25. Januar 2024

Bodo Kirchhoff kennt den Gardasee, wo er ein Haus hat. Und er weiß, wie Männer über 70 ticken: er ist Jahrgang 1948. In seinem neuen Roman „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ fließen die eigenen Erfahrungen ein, wobei dem Tier – in diesem Fall die rumänische Straßenhündin Ascha – eine bedeutende Rolle in diesem Fünf-Personenstück zukommt: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt, denkt Schongauer in schlaflosen Nächten sogar manchmal daran, dass er gern als dieses Tier auf die Welt gekommen wäre, nur mit dem Gedächtnis für Gut und Ungut, Freund oder Feind, und ohne Wissen um die Zeit.“ Verheerungen des Alters Doch der Hauptfigur Louis Arthur Schongauer, einem ehemaligen B-Schauspieler in Hollywood, ist das Vergehen der Zeit schmerzlich bewusst. Der 75. Geburtstag droht. Und als die 24 Jahre junge Influencerin Frida mit ihrem Wohnmobil vor seinem Garten strandet, spürt er mehr denn je die Verheerungen des Alters. Dabei war er doch auch einmal jung, damals in Hollywood, als er in Nebenrollen immer den bösen Nazi verkörpern sollte. Und als sich die junge Lynn in ihn verliebte. Zwei Frauen und viele Fragen Mehr denn je wird dem alten Mann am Berg die Vergangenheit bewusst, als zusätzlich zu…

Am Ende war’s ein Leben
Rezensionen , Romane / 21. Dezember 2023

Das späte Leben heißt der neue Roman von Bernhard Schlink, eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Martin ist 76 Jahre alt, aber seine Familie ist jung. Denn er hat vor wenigen Jahren mit der 30 Jahre jüngeren Ulla nochmal eine Familie gegründet. Sohn David ist sechs. Nun hat der Familienvater die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen. Martin muss mit einem baldigen Tod rechnen. Was bleibt? Was bleibt von ihm? Wie wird sich David an ihn erinnern? Was kann er dem Jungen noch geben? Bilanz ziehen will er nicht: „Für das Leben lässt sich keine Bilanz ziehen. Man macht dies und macht das, und am Ende war‘s ein Leben. Mehr ist nicht.“ Also schreibt Martin einen Brief für David, den er erst erhalten soll, wenn er älter ist. Dieses Schreiben zieht sich durch den ganzen Roman. Martin will David etwas mitgeben für sein Erwachsensein, will ihn auf das Leben vorbereiten. Aber er will auch in Erinnerung bleiben. Kein leichtes Unterfangen, manchmal auch eine Gratwanderung. Das Leben nach ihm Er hat noch viel vor in der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt. Umso seltsamer findet er es, dass Ulla sich ihm immer mehr entzieht. Betrügt sie ihn? Wie soll er damit umgehen? Martin weiß ja,…

Gespenster der Erinnerung
Rezensionen , Romane / 28. November 2023

Ist das jetzt ein Sachbuch oder eines der derzeit so gehypten Memoirs? Kajzer, das Debüt von Menachem Kaiser ist womöglich beides. Denn der jüdische Kanadier schildert die Spurensuche nach seinen Vorfahren, die aus Polen vertrieben wurden oder im Holocaust ums Leben kamen. Die Adresse Konkret geht es um den Versuch, ein Wohnhaus, das dem Großvater gehörte, zurückzubekommen. Ausgangspunkt teilweise kafkaesker Verwicklungen ist die Adresse Malachowskiego 12 in der polnischen Stadt Sosnowiec im früheren Schlesien. Hier beginnt der Enkel 2015 mit seinen Recherchen, lässt sich von den freundlichen Bewohnern aus ihrem Leben in dem Haus berichten („This is my family‘s house“, das ist das Haus meiner Familie, sagt einer). Flankiert wird Menachem Kaiser dabei von seiner Anwältin, „Killerin“ genannt, und deren Assistentin. Der Großonkel Statt bei dieser aufwendigen Spurensuche dem Großvater näher zu kommen, entdeckt der Enkel einen unbekannten Verwandten, der in Polen durchaus Anerkennung genießt. Unter Schatzjägern, mit denen Menachdem Kaiser auf seiner Reise in die Vergangenheit ebenfalls in Berührung kommt. Dieser Abraham Kajzer hatte über seine Zeit in einem polnischen KZ sogar Buch geführt und das später veröffentlicht. Dabei ging es auch um das legendäre Großprojekt Riese der Nazis, das die Fantasie der polnischen Schatzjäger bis heute beflügelt. Das…

Von der Superkraft Freundschaft
Rezensionen , Romane / 23. November 2023

Wer träumt nicht davon, fliegen zu können – leicht wie ein Vogel? Sofia im Roman „Der Traum vom Fliegen“ von Milena Moser kann das, aber sie hat keinen Einfluss auf den Flug, fühlt sich ausgeliefert. Denn jeder Flug konfrontiert sie mit dem Elend dieser Welt: Der Traum wird zum Alptraum. Behütet und gemobbt Das Wunschkind zweier schwuler Männer, wächst in einer behüteten Umgebung auf und ist lange eine Vorzeigetochter. Doch Sofia, die schon früh vom Fliegen träumt, ist auch einsam, wird in der Schule gemobbt. Trotzdem erhält die begabte Schülerin einen Studienplatz an einer privaten Elite-Uni, sogar ein Stipendium. Doch das alles verliert sie wieder. Denn um dem Alptraum des Fliegens zu entgehen, futtert sich Sofia zum Schwergewicht. Zumutungen des Klinik-Alltags Die beiden Väter sind ratlos, wissen sich nicht anders zu helfen, als Sofia in eine Klinik zu bringen – in der Hoffnung, dass sie dort abnehmen werde. Das verwöhnte Mädchen wehrt sich anfangs gegen die Zumutungen der Ärzte und Psychotherapeuten. Auch die Mitbewohnerin Emerald, die sich mit einer Instagram-Inszenierung als „Cancergirl“ zum Ziel eines Shitstorms gemacht hatte, nervt sie. Neue Freunde Doch allmählich lässt sich Sofia auf die veränderten Umstände ein, findet in der magersüchtigen Emerald mit dem ausgeprägten…

Frauen ohne Lobby
Rezensionen , Romane / 8. November 2023

Was für ein Roman: Die Frauen von Shonagachi nötigen uns jede Menge Respekt ab. Rijula Das holt diese von der Gesellschaft geächteten Frauen ins Rampenlicht. Denn sie sind allesamt Huren und arbeiten in einem Bordell in Südasiens größtem Rotlichtviertel in Kolkata. Die „Bordellmutter“ Shefali Madam regiert ihr Reich mit harter Hand. Erzählt wird der aufwühlende Roman entlang der erfahrenen und ziemlich abgebrühten Prostituierten Lalee und ihres Verehrers, des schüchternen Möchtegern-Autors Tilu. Der Retter von der traurigen  Gestalt Im Moloch von Kolkata treffen die beiden immer wieder aufeinander. Tilu ist Lalees bester und sicherster Kunde, auch wenn er kaum Geld zum Überleben hat. Aber er liebt diese Frau, die ihn kaum beachtet. Und als Lalee eines Tages verschwunden ist, ahnt er, dass sie in Gefahr ist und stürzt sich in eine Rettungsaktion wie Don Quijote in den Kampf gegen die Windmühlen. Ordnungshüter ohne Ordnung Rijula Das braucht diese humoristischen Einlagen, damit das, was sie zu erzählen hat, erträglich wird. Denn da geht es um Mord, um Kindsmissbrauch, um religiösen Fanatismus und um einen Guru, der seinen Einfluss dazu nutzt, seine perversen Gelüste auszuleben. Auf der anderen Seite, der Seite der staatlichen Gewalt, Polizisten ohne Plan und ohne Engagement. Verpeilte Männer, die…

Der Zug durch die Zeit
Rezensionen , Romane / 6. November 2023

Anfangs wollte kein Verlag die Texte von Alex Schulmann veröffentlichen. Also begann er als Blogger, denn schreiben war für ihn existentiell. Er schrieb über sich, sein Leben, seine Erfahrungen – und hatte Erfolg. Heute ist der 1976 geborene Schwede einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Der Durchbruch gelang ihm mit „Verbrenn‘ alle meine Briefe“ auch international. Jetzt also ein neuer Schulmann „Endstation Malma“, anders als die Vorgänger und mit einer ganz eigenen Erzählstruktur. Die Wahrheit der Bücher „Bücher haben eine eigene Wahrheit“, hat Alex Schulmann in einem Interview gesagt, als er auf die autofiktionalen Inhalte seiner Romane angesprochen wurde. Kindheit ist für ihn alles. Deshalb spielt sie auch in seinen Romanen eine wichtige Rolle. Das ist in „Endstation Malma“ nicht anders. Anders ist aber, dass die Erzählenden aus verschiedenen Generationen stammen. Ein Zug – drei Generationen Alles beginnt damit, dass die kleine Harriet mit ihrem Vater im Zug nach Malma fährt, ein schüchternes, verunsichertes Mädchen. Schon im nächsten Kapitel ist sie eine Frau, die sich scheinbar selbstbewusst über gesellschaftliche Normen hinwegsetzt – auch auf der Zugfahrt, auf der sie Oskar begegnet, der diese für die beiden entscheidende Episode erzählt. Und wieder ein Kapitel später ist es die unsichere, dickliche Yana,…

Mörderische Megacity
Rezensionen , Romane / 18. Oktober 2023

Ist das die Welt, in der wir leben wollen? Laurent Gaudé schreibt in seinem Roman „Hund 51“ über eine nicht zu ferne Zukunft, in der nicht mehr Politiker die Welt regieren, sondern monopolistische Konzerne. Es gibt auch keine Nationalstaaten mehr, dafür ein brutales Klassensystem, in dem Menschen nicht mehr wert sind als ein Hund – wenn sie denn der unterprivilegierten Schicht angehören. Der einsame Held Wie im literarischen Cyber Punk der 1980er Jahre gibt es auch in dieser Dystopie einen einsamen Helden. Zem Sparak gehört zu den Verlierern des Fortschritts. Seine Heimat Griechenland existiert nicht mehr. Er lebt in Zone 3, der Zone der Abgehängten, die schutzlos dem Wüten der Natur ausgeliefert sind. Der Mann ist desillusioniert und versieht seinen Dienst als Polizist ohne großes Engagement. Dann wird eine übel zugerichtete Leiche gefunden, und Zem bekommt den Auftrag, zusammen mit der ehrgeizigen Kommisarin Salia aus der privilegierten Zone 2 zu ermitteln. Keine Hoffnung Dass Salia ihn als Hund bezeichnet, der da schnüffeln soll, wohin sie ihn schickt, stört Zem kaum. Er hat schon längst den Glauben an das Miteinander der Menschen verloren, auch die Hoffnung auf bessere Zeiten. Doch irgendwie kommen die beiden unterschiedlichen Ermittler doch noch zusammen, ja es…