Kunst und Schicksal
Rezensionen , Romane / 9. September 2024

Alard von Kittlitz ist ein Sprach-Virtuose und ein scharfsinnige Beobachter. Man liest gerne seine eleganten Sätze, lässt sich auch hineinziehen in Diskussionen, die vor bemühter Intellektualität strotzen. In seinem neuen Roman „Kismet“ geht es um ein Paar, das vor allem um sich selbst kreist. Die Jurastudentin Johanna fühlt sich schicksalhaft zu dem armenischen Maler David hingezogen, dessen rätselhaftes Gemälde sie in Bann geschlagen hat. Gegenseitige Abhängigkeit Die beiden ungleichen Mittzwanziger kommen auch zusammen, aber es wird eine äußerst schwierige Beziehung, die lange unter einem Mangel an sexueller Nähe krankt. Beide haben Verletzungen davon getragen, die sie vor dem jeweils anderen verbergen. Alard von Kittlitz erzählt aus der Perspektive von Johanna, wie sich die Beziehung  zwischen Berlin, Ibiza und New York zu einer gegenseitigen Abhängigkeit, ja zu einer Obsession entwickelt. Zelebrierte Außergewöhnlichkeit Johanna leidet unter Davids Besitzanspruch, unter seiner Aggressivität und fordert sie doch immer wieder heraus.  Die beiden können nicht miteinander, sie können aber auch nicht von einander lassen. Johanna vernachlässigt Familie und Freunde, um diese außergewöhnliche Beziehung zu zelebrieren, auch wenn sie immer wieder Zweifel daran hat, dass sie ihr guttut. Abgründe in Bergkarabach Die abgründige Liebe ist das Zentrum des Roman. Daneben geht es auch um den Kunstmarkt…

Sex and the family
Rezensionen , Romane / 26. August 2024

Der Ire Paul Murray kann erzählen, seitenlang. Auch sein hochgelobter Roman „Der Stich der Biene“ ist ein dicker Brocken. Die 700 Seiten über eine dysfunktionale Familie in den irischen Midlands haben es 2023 sogar auf die Shortlist des renommierten Booker Prize geschafft. „Sie werden in diesem Jahr keinen traurigeren, spannenderen und lustigeren Roman lesen“ wird der Guardian auf dem Umschlag zitiert. Sinnbild des Zerfalls Tatsächlich ist diese Geschichte über den Niedergang der Familie Barnes teilweise urkomisch, teilweise Furcht erregend aktuell und immer spannend. Murray lässt die Lesenden hinter die Fassade blicken – auf eine irische Gesellschaft, wie man sie so nicht kennt. Der  Zerfall der wohlhabenden Familie steht sinnbildlich für den Zerfall der Gesellschaft, die nach dem Motto zu leben scheint „Jeder für sich und Gott gegen alle“. Ein ungleiches Paar Im Mittelpunkt der Geschichte, die Paul Murray aus den unterschiedlichen Perspektiven der Familie erzählt, steht Dickie, der den prosperierenden Autosalon seines Vaters an die Wand fährt. Nach dem Unfalltod seines charismatischen Bruders Frank hat Dickie dessen Geliebte geheiratet, obwohl er während seines Studiums in Dublin seine Homosexualität entdeckt und mit einem Freund ausgelebt hat. Imelda kommt aus prekären Verhältnissen: Der Vater ein nichtsnutziger Säufer, die Brüder bis auf den…

Sie sagt, er sagt
Rezensionen , Romane / 19. August 2024

Moa Herngren hat mit ihrem Roman „Scheidung“ in Schweden einen Bestseller gelandet. Wahrscheinlich auch deshalb, weil viele Lesende die Problematik kennen und sich im Roman wieder erkennen. Wie heißt es immer so schön: Es gehören immer zwei dazu, wenn eine Partnerschaft nicht funktioniert. Das ist auch bei Bea und Niklas nicht anders – auch wenn Bea es nicht wahrhaben will. Trautes Heim, Glück allein? Hat sie nicht immer alles getan, um Mann und Töchtern ein schönes Heim und ein harmonisches Familienleben zu verschaffen?  Und Niklas? Was hat er schon dazu beigetragen? Ja, ohne sein Gehalt als Kinderarzt könnten sie sich die luxuriöse Wohnung, die Reitstunden für die eine Tochter und so manche Extra-Ausgabe nicht leisten. Dafür hat sie der Familie zuliebe auf eine eigene Karriere verzichtet und begnügt sich mit einer eher bescheidenen Entlohnung beim Roten Kreuz. Mehr als eine Midlife-Crisis Moa Herngren lässt Bea als erste zu Wort kommen, ihren ganzen Frust ablassen. Doch die journalistisch versierte Autorin weiß, dass es zwei Wahrheiten gibt. Und deshalb darf Niklas auch ausgiebig seinen Standpunkt klarstellen. Warum will er nach einem eigentlich lächerlichen Streit raus aus der Beziehung? Da ist mehr dahinter als die übliche Abnützung in einer langen Ehe oder eine…

Rätsel Kindheit
Rezensionen , Romane / 16. August 2024

Familienroman und Horrorstory: Wie geht das zusammen? Die Österreicherin Jessica Lind schafft es, in ihrem Roman „Kleine Monster“ beides zu verbinden. Die Ich-Erzählerin Pia muss sich als Mutter des Grundschülers Luca mit Vorwürfen herumschlagen, ihr siebenjähriger Sohn habe sich vor einer Mitschülerin entblößt. Luca selbst schweigt zu den Anschuldigungen und irgendwann scheint die Sache im Sand zu verlaufen. Nagender Verdacht Doch das ist nur oberflächlich. Während ihr Mann Jakob sich schnell hinter seinen Sohn stellt, nagt in Pia ein böser Verdacht. Dabei erinnert sie sich an ihre eigene Kindheit, die kleine Schwester Linda und die Adoptivschwester Romi, die von Pia uneingeschränkt bewundert wurde. Romi war wild und ungezügelt, und Linda kam bei einem Badeunfall ums Leben. Pia wüsste gern mehr darüber, aber ihre Eltern schweigen – wie Luca schweigt. Keine Bilderbuchwelt Das Ganze hat etwas Bedrohliches, vor allem die Zwanghaftigkeit, mit der Pia versucht, Luca zum Reden zu bringen. Was will sie wirklich von dem „kleinen Monster“, als das sie Luca und seinen Freund Mattis sieht? Tatsächlich sind die Kinder in diesem Roman alles andere als niedliche Reproduktionen ihrer Eltern. Sie haben ihren eigenen Kopf und den Willen, sich durchzusetzen. Trotzreaktionen und Machtkämpfe kommen auch in Familien vor, die nach…

Persisches Monopoly
Rezensionen , Romane / 16. August 2024

So richtig sympathisch ist keine dieser Perserinnen, die Sanam Mahloudji in ihrem gleichnamigen Roman zu Wort kommen lässt. Allen voran die arrogante Schönheit Shirin, die davon ausgeht, sich in ihrem amerikanischen Exil so ziemlich alles erlauben zu können. Schließlich spielt Geld keine Rolle. Und dann ist da auch noch der große Name unter ihren Ahnen, ein berühmter Krieger. Im alten Persien jedenfalls gehörte ihre Familie zu den besten des Landes. Da können die Amerikaner nicht mithalten. Zweierlei Leben Ihre Nichte Bita sieht das alles ein bisschen differenzierter. Sie schämt sich, wenn ihre exaltierte Tante sich mal wieder daneben benimmt und ausgerechnet einem Polizisten eine Nummer für 50.000 Dollar anbietet – natürlich aus Spaß. Shirin kann sich einfach nicht vorstellen, dass auch sie angreifbar ist. Ihr Leben in Aspen mit Mann und Sohn ist so glamourös wie langweilig. Und Bita kann sich nur über die naive Rücksichtslosigkeit ihrer Tante wundern: „Seit elf Jahren, seit 1994, flogen wir jetzt schon aus New York, L.A. und Houston hierher, als hätte es 1979 und die Islamische Revolution nie gegeben. Als gehörten wir immer noch den wichtigsten Familien im Iran an, als wären wir die Nachkommen mächtiger, uralter Dynastien, obwohl das hier Amerika war und…

Das Leben neu lernen
Rezensionen , Romane / 7. August 2024

„Von jetzt auf gleich war alles vernichtet, was ich mir vorgestellt hatte,“ sagte Daniela Krien vor Jahren in einem Gespräch über ihre behinderte Tochter. Wie ihr ergeht es der Ich-Erzählerin in Kriens neuem Roman „Mein Drittes Leben“. Linda hat ihre 15-jährige Tochter durch einen Unfall verloren. Seither ist ihr Leben zerbrochen und sie versucht,  das Leben neu zu lernen.  Unterschiedliche Trauer Die elegante Galeristin hat sich von einer alten Frau die zeitweise Übernahme eines heruntergekommenen Bauernhofes aufschwatzen lassen. Auf dem Land verändert sich Linda bis zur Unkenntlichkeit. So empfindet es jedenfalls Richard, ihr Mann. Auch er tut sich schwer, den Tod der Tochter zu verkraften. Aber an seinem Leben ändert sich kaum etwas. Immerhin hat er noch zwei Kinder aus erster Ehe. Und das nimmt Linda ihm übel. Rückzug aufs Land Das Dorf, in das sie zieht, ist so hässlich, dass sie das Leben dort als eine Art Strafe betrachten kann. Strafe dafür, dass sie noch lebt, während ihr Kind tot ist. Was sie nicht erwartet hat, ist, dass sie in diesem Dorf Freunde findet. Die Nachbarn, ein älteres Ehepaar mit ganz eigenen Sorgen, nehmen sie herzlich auf. Bei ihnen hat sie nicht das Gefühl, sie mit ihrem Leid zu…

Wer lügt, fliegt raus
Rezensionen , Romane / 7. August 2024

Ursula Poznanski ist eine Meisterin der Spannung. Am liebsten entwickelt sie ihre Thriller rund um aktuelle Technologien. Das gilt auch für ihren neuen Thriller „Scandor“. Nein, es geht nicht um die viel diskutierte KI, auch wenn dieser Lügendetektor KI-Elemente enthält. Er reagiert auf die kleinste Flunkerei und korrespondiert über Körperfunktionen. Nicht so schlimm, denkt man erstmal. Aber wir kennen ja Ursula Poznanski. Sie hat sich da wieder ein Szenario ausgedacht, das Ängste vor übergriffigen digitalen Errungenschaften schürt. Lügen und Traumata Philipp und Tessa, beide 18, haben sich auf eine ganz besondere Herausforderung eingelassen und lernen einander dabei kennen. Sie sind zwei von 100 Menschen, die einen neu entwickelten, unfehlbaren Lügendetektor testen sollen: Scandor. Wer beim Lügen erwischt wird, ist draußen und muss sich dem Trauma seines Lebens stellen. Dem Sieger winken fünf Millionen Euro. Viel Geld, das einige der Teilnehmenden dazu verlockt, bei den Frage- und Antwort-Duellen zu unfairen Mitteln zu greifen. Und dann gibt es wohl jemanden im Hintergrund, der die Fäden zieht und seine ganz eigenen Ziele verfolgt.  Die Spannung wächst Es fängt alles ganz harmlos an und steigert sich ab der Mitte bis zum Show Down am Ende, der einige der losen Fäden zusammenführt. Auch wenn da…

Benedict Wells über sein Leben und Schreiben
Rezensionen , Romane / 5. August 2024

Er wollte nie viel von sich preisgeben. Auch weil er nicht mit der Familie von Schirach und deren Verstrickungen in der NS-Zeit in Verbindung gebracht werden wollte, hat er sich hinter einem selbst gewählten Namen versteckt: Benedict Wells. Doch in dem Buch „Die Geschichten in uns“, das er seinem Vater gewidmet hat, lässt der immer noch jugendlich wirkende Erfolgsautor die Lesenden teilhaben an seinem Leben und Schreiben. Inspiration von Stephen King Die Gedanken und Sätze dieses Buches kamen ihm fast mühelos, schreibt Benedikt Wells im Vorwort. Es ist kein Roman geworden, sondern eine Art Werkstattbericht. Inspiriert dazu hat ihn Stephen King mit seinem Buch „On Writing“ (Über das Schreiben). Und wie sein Vorbild schreibt Wells auch über sich selbst, denn ohne den Jungen, der er war „und sein Aufwachsen kann ich nicht von meinem Schreiben erzählen“. Schwierige Kindheit Und dieses Aufwachsen ist alles andere als einfach. Die Mutter manisch-depressiv, der Vater insolvent. Das staatlich-katholische Grundschulheim empfindet der sensible Junge als eine Zauberwelt weit weg vom Problem behafteten Zuhause. Dass es mit den Eltern auch glückliche Momente gab, will er nicht verhehlen. „Ihre Liebe trotz aller Probleme und der Zugang zur Literatur gehören zu den größten Privilegien meines Lebens.“ Schon mit…

Sommer der Konflikte
Rezensionen , Romane / 27. Juli 2024

Davor haben viele Eltern Angst: Dass sie ihre eigenen Kinder nicht mehr verstehen. Aber auch davor, dass die Welt für diese Kinder unerträglich wird.  Amelie Fried kennt diese Ängste.  In ihrem Roman „Der längste Sommer ihres Lebens“ schreibt sie auch über einen Mutter-Tochter-Konflikt im Zeichen des Klimawandels. Die Karriere im Blick Vordergründig geht es um die Karriere der Unternehmerin Claudia. Die Chefin eines traditionsreichen Autohauses in einer Kleinstadt engagiert sich auch politisch und will Bürgermeisterin werden. Um dafür genug Zeit zu haben, schlägt sie ihren Mann Martin als Geschäftsführer vor – gegen den Willen ihrer Mutter Marianne, die sich immer wieder in die Belange des Autohauses einmischt. Ihre Kinder, denkt Claudia, sind groß genug, um nicht mehr ihre volle Aufmerksamkeit zu benötigen. Familiäre Konflikte Der Sohn Julian ist mit seinen 15 Jahren zwar noch in der Pubertät und gerne aufsässig. Aber Tochter Anouk hat bisher alle Erwartungen er- wenn nicht sogar übererfüllt. Doch dann begehrt Anouk gegen den Familienalltag auf, schmeißt die Schule vor dem Abitur und zieht zu ihrem neuen Freund, dem charismatischen aber undurchsichtigen Joshua.  Claudia versteht die Welt nicht mehr. Auch sie und Martin entfremden sich einander immer mehr. Das führt soweit, dass Martin zu einem Freund…

Sprachlos in Irland
Rezensionen , Romane / 22. Juli 2024

Mit „Long Island“ knüpft Colm Tóibín an seinen Roman „Brooklyn“ an, in dem die junge Irin Eilis in den 1950er-Jahren zum Arbeiten nach New York kommt und dort heimlich den Italiener Toby heiratet. Bei einem Besuch in der Heimat trifft sie ihre Kindheitsliebe Jim wieder und verbringt mit ihm und den Freunden Nancy und George einen glücklichen Sommer. Rund 20 Jahre später lebt Eilis mit Tony und ihren Kindern in „Long Island“. Doch glücklich ist sie nicht. Denn Tony hat sie mit einer Nachbarin betrogen – und die erwartet ein Kind aus diesem Seitensprung. Flucht in die Heimat Eilis weigert sich strikt, dieses Kind aufzunehmen. Ganz im Gegensatz zur italienischen Großfamilie, die darin kein Problem sieht. Die Irin fühlt sich zunehmend unverstanden in dem Familienverbund und beschließt, zum 80. Geburtstag ihrer Mutter nach Irland zu reisen, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Jim und seine Pläne Doch es kommt anders als geplant. Denn in der irischen Kleinstadt lebt immer noch Jim, der nie geheiratet hat. Allerdings hat er sich nach langem Zögern dazu entschlossen, mit der inzwischen verwitweten Nancy ein neues Leben anzufangen. Bringt Eilis diese Pläne ins Wanken? Es ist vor allem die Sprachlosigkeit der Protagonisten, die…