Anne Tyler scheint auch mit 83 die Freude am Schreiben nicht verloren zu haben. Ihr neuer, schmaler Roman „Drei Tage im Juni“ zeigt die Pultizer-Preisträgerin auf der Höhe ihrer Meisterschaft, das Menschliche in all seinen Facetten zu beschreiben. Drei Tage braucht sie dafür, eine Hochzeit und einen Fehltritt. Nichts Dramatisches, alles in geregelten Bahnen und trotz aller Kürze ein wichtiges Buch. Warmherzig und witzig. Ein Buch über die Liebe, über Zweifel und Vertrautheit. Mangelnde Sozialkompetenz? Mit 61 erfährt Gail, stellvertretende Schuldirektorin, von ihrer Vorgesetzten, dass es ihr an Sozialkompetenz mangele. Ausgerechnet kurz vor der Hochzeit ihrer Tochter Deborah, genannt Debbie. Ich-Erzählerin Gail ist wütend und verwirrt. Könnte Marilee Recht haben? Und dann will auch noch der Ex-Mann Max bei ihr übernachten – mit Katze. Gails anfängliche Ablehnung wandelt sich im Lauf der Zeit in ein Gefühl der Vertrautheit, leichte Störungen und kleinliche Streitigkeiten inklusive. Fehltritt mit Folgen Als Debbie ihren Eltern davon berichtet, dass ihr Bräutigam Kenneth sie womöglich betrogen hat, wird Gail auf einen Fehltritt gestoßen, der letztlich zum Ende ihrer Ehe geführt hat. Nicht Max war daran schuld, sondern sie: „Warum hatte ich, obwohl ich meinen Mann ehrlich liebte – zumindest auf die immer nur halb glückliche Art…
Ganz klar, dieser Valentino ist der italienische Bruder von Philip Marlowe, Chandlers legendärem Privatdetektiv. Schon mit dem Titel „Schwarz wie das Herz“ verweist Autor Giancarlo de Cataldo auf das Vorbild der schwarzen Krimis. Ich-Erzähler Valentino ist zwar kein Privatdetektiv sondern Anwalt, aber wie Marlowe zwar aufrecht aber ziemlich verlottert. Ein harter Kerl, der gern billige Zigarren raucht und schöne Frauen mag, aber keine Kompromisse macht, wenn es um seine moralischen Grundsätze geht. Ein aufrechter Held Und wie Marlowe geht Valentino aufrecht seinen Weg in einer von Korruption geprägten Welt, in der schwarze Leben weniger gelten als weiße, arme Menschen weniger wert sind als reiche. Ohne seine Unterstützer aus der Szene wäre Valentino schon längst gescheitert. Mit ihnen aber gerät er an einen Fall, der ihm alles abverlangt. Auch, weil er lange nicht ahnt, worum es wirklich geht beim Mord an einem Schwarzen. Der hatte Valentino kurz vor seinem gewaltsamen Tod noch um Hilfe gebeten… Ein gefährliches Netz Schon aus schlechtem Gewissen lässt sich der Anwalt darauf ein, den Fall näher zu untersuchen. Dabei gerät er ins Netz einer mächtigen römischen Familie, der Alga-Croce. Und trotz aller moralischen Skrupel läuft er Gefahr, darin hängen zu bleiben. Zu verführerisch ist die Vorstellung,…
Thomas Manns „Zauberberg“, vor 100 Jahren erschienen, beschäftigt die Literaturszene bis heute. Auch Norman Ohler hat sich des Romans angenommen – und seinem Roman den ambitionierten Titel „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ gegeben. Schon etwas hoch gegriffen für diese autofiktionale Geschichte, in deren Mittelpunkt der Skiurlaub eines Vaters mit seiner Teenie-Tochter steht. Skiurlaub und Steuer Darum geht es: Ohler oder sein alter ego macht mit seiner 14-jährigen Tochter Suki Skiurlaub im Hotel Schatzalp oberhalb von Davos. Da, wo auch Thomas Manns „Zauberberg“ teilweise spielt. Begleitet werden Vater und Tochter von zwei Freundinnen Sukis und deren Müttern. Während die Mädchen beim feschen Skilehrer Hansi „Pizza-Fahren“ lernen, beschäftigt sich der leicht liebeskranke Vater mit dem Gedanken, wie er den teuren Skiurlaub von der Steuer absetzen könnte. Der Ort und seine Geschichte Er kifft ein bisschen, schaut in den Zauberberg und beschäftigt sich mit der Geschichte des Ortes. Dass diese Bergdörfer früher mal bettelarm waren, weiß man eigentlich. Aber Ohlers Erzähler muss dafür erst einmal in die Dokumentationsbibliothek, wo er auf die Urväter des Davoser Erfolgs stößt, den Arzt Alexander Spengler, der den Luftkurort Davos für Tuberkulosekranke erfunden hat und den Fabrikanten Willem Jan Holsboer, der dafür sorgte, dass der aufstrebende Kurort an…
In dem Roman „Bei Licht ist alles zerbrechlich“ erzählt der Neapolitaner Gianni Solla eine ebenso berührende wie unglaubliche Geschichte aus den letzten Jahren des 2. Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit. Davide ist arm dran. Als Sohn eines Schweinehirten stinkt er, wegen eines verkürzten Beins hinkt er auch noch, und er kann weder lesen noch schreiben. Das ideale Mobbing-Opfer für die Dorfjugend. Nur Teresa ist ihm eine treue Freundin, gegen den Willen ihres – wohlhabenden – Vaters. Die Juden kommen ins Dorf Es ist noch Krieg in Italien, Mussolinis Faschisten geben den Ton an. Auch Davides Vater ist Faschist. Eines Tages bringt ein Bus Juden aus Neapel in das abgelegene Dorf. Die anfängliche Abneigung gegen die unwillkommenen Gäste weicht allmählich der Gewöhnung. Die Dreier-Freundschaft Für Davide ist die Ankunft der Juden schicksalhaft. Ein gleichaltriger Junge, Nicolas, fasziniert ihn. Und dessen Vater, ein Lehrer, lehrt ihn Schreiben und Lesen. Nicht einmal die Schläge des Vaters und der grausame Tod seines Lieblingsebers können Davide vom Lernen abhalten. Nicolas wird zum Freund, zum Dritten im Bund von Teresa und Davide. Das ungleiche Trio erlebt einen unbeschwerten Sommer. Davide ist glücklich – bis er Teresa und Nicolas bei einem Kuss beobachtet. Das ist das Ende…
Donatella Di Pietrantonio kennt die Gegend um Pescara, von der sie in ihren Romanen erzählt. Das spürt man in jeder Zeile. Und als Kinderzahnärztin hat die Schriftstellerin viel Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen. Auch die ist in ihren mit dem Premio Strega ausgezeichneten Roman „Die zerbrechliche Zeit“ eingeflossen. Leben im Lockdown Der Roman erzählt die Geschichte eines kleinen Ortes. Zugleich ist es die Geschichte der jugendlichen Amanda, die im Lockdown in das ungeliebte Zuhause zurückkehrt. „Mailand hat mir eine erloschene Tochter zurückgegeben“, stellt die Mutter traurig fest. Zwischen dem Schweigen Amandas und der Wortkargheit ihres Vaters versucht sich die Ich-Erzählerin Lucia in der Erklärung ihres eigenen Lebens und seiner Zerbrechlichkeit. Gesammeltes Schweigen Früh ahnt man, dass die Menschen unter dem Dente del Lupo, dem Wolfszahn, an einem Unglück leiden, das sie nie bewältigt haben. Auch Amanda hat etwas erlebt, das ihr Grundvertrauen erschüttert hat. Wie das Dorf begräbt sie das Erlebte, indem sie sich zurückzieht. Unheilvoll hängt dieses gesammelte Schweigen über dem Alltag. Lucia sorgt sich um ihre Tochter, fühlt sich ausgeschlossen: „Das geheime Leben der Kinder. Wir wissen, dass es existiert, sind aber nie darauf gefasst, es zu berühren.“ Seelenlandschaft Der Dente del Lupo in den Abruzzen mit dem…
Corona in Mailand. Eine typische Straße in der Stadt: „Da ist sie, die Via Marghera, eng und elegant, auch diese Straße ändert sich nie, mit unbekümmerter Ironie erträgt sie die Zeit.“ Mittendrin das Café Royal, zentraler Treffpunkt der gut situierten Menschen, die hier wohnen und zu Pandemie-Zeiten mehr denn je an ihrer Existenz leiden. Marco Balzano hat sie in seinem Episodenroman „Café Royal“ porträtiert. Die 18 Episoden, benannt nach den jeweiligen Protagonisten, fügen sich zum Bild einer Gesellschaft, die an der Langeweile zu ersticken droht. Träumen und Hadern Da ist der Arzt, der seine Patienten nicht mehr sehen kann. Der Aushilfspriester, der mit seinem Glauben hadert: „Ich lese die Messe wie ein Postbeamter.“ Der Kellner, der von einer unerfüllbaren Liebe träumt. Die Ehefrau und Mutter, die aus Langeweile eine Affäre mit dem Jugendfreund beginnt. Die einsame Alte, die ihren Kindern eine Nase dreht. Die Adoptivtochter, die wegen des Lockdowns die Bindung an die Adoptiveltern vertieft. Die Frau, die sich beim Martini-Trinken in einen Fremden verliebt. Der Hilfskoch, der mit der jungen Obdachlosen tändelt… Komplexes Beziehungsgeflecht Die Episoden sind aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, mal in der Ich-Form, mal berichtet der auktoriale Erzähler, auch ein Brief ist dabei. Meist geht es um…
Da ist er wieder, der eigenbrötlerische Kommissar Weinzierl, den Krimi-Autorin Nicola Förg einige Zeit vernachlässigt hat. Dafür bekommt er im neuen Krimi „Moorlichter“ einen Fall, der auch hartgesottenen Krimileserinnen und -Lesern unter die Haut gehen dürfte. Doch bis es zur zentralen Geschichte kommt, die auch in Weinzierl, der noch immer um seinen Hund trauert, lang unterdrückte Emotionen hochkochen lässt, müssen die Lesenden sich gedulden. Kitzretter unterwegs Es war die Arbeit einer Gruppe von Kitzrettern, die Nicola Förg auf die Idee zu diesem Krimi gebracht hat. Die Tierfreundin war elektrisiert. Drohnen, die dabei helfen, Kitze vor dem Mähtod zu bewahren! In ihrer Story sorgen die Drohnen dafür, dass eine Leiche gefunden wird. Die des Altbauern Sebastian Mair, ein eher unfreundlicher Zeitgenosse, der Tiere hasst, Rehe wildert und selbst vor den geschützten Bibern nicht Halt macht. Könnten also Tierfreunde hinter seinem Tod stecken? Aufklärung über Reh und Wald Weinzierl und seine Kollegin Evi Straßgütl ermitteln in alle Richtungen und sorgen dafür, dass auch die Lesenden wieder so einiges lernen über Tier- und Artenschutz, über das Fauna Flora Habitat und den deutschen Wald. Das gehört bei den Förg-Krimis einfach dazu. Schließlich gibt es in diesem Bereich jede Menge Unkenntnis und Missverständnisse, zum Beispiel…
Bachtyar Ali, 1966 im Nordirak geboren, steht ganz in der Tradition der orientalischen Märchenerzähler. Sein neuer Roman „Die Herrin der Vögel“ entführt die Lesenden in eine fremde, oft auch befremdende Welt. Eine Welt, in der Messerhelden den Ton angeben, in der nur Blutrache die Ehre wieder herstellen kann und der Alltag von Gewalt geprägt ist. Es ist die Endzeit von Saddam Hussein, das kurdische Dorf wird von Clan-Kriegen heimgesucht. Und mittendrin Sausan, die bleiche Schöne. Der Liebesbeweis Drei Männer werben um die kränkliche junge Frau, die so geheimnisvoll wirkt und bisher jeden Heiratsantrag ausgeschlagen hat. Doch nun soll sie sich entscheiden, fordern der Vater Fikrat und die Familie. Sausan aber will ihre Bewerber auf eine Probe stellen. Acht Jahre sollen sie in die Welt hinausziehen, um für sie die schönsten Vögel zu finden. Trotz aller Unterschiede stimmen alle drei Männer zu, diesen Liebesbeweis erbringen zu wollen. Wie die Prinzen im Märchen Kameran, der junge Maulheld, attraktiv aber ungebildet, hat vorher schon seinen Rivalen, den Studenten Asrin mit einem Messer attackiert. Mit dem smarten Kaufmann Khaled ist das Trio perfekt. Jeder der drei hat seine Unterstützer, die Sausan vom Fortschritt der Reise berichten. Und während sie auf ihrer Quest sind wie…
Wie sicher können wir uns unserer Erinnerungen sein? Was machen wir uns vor? Was haben wir uns aus Erzählungen zusammengereimt? Auch darum geht es im Debüt von Sarah Easter Collins. Schon der Titel „So ist das nie passiert“ warnt davor, dem, was hier berichtet wird, blind zu vertrauen. Schließlich könnte alles auch ganz anders gewesen sein. Die verschwundene Schwester Klar ist, dass Willas kleine Schwester Laika mit 13 Jahren spurlos verschwunden ist und dieser Verlust Willa ein Leben lang begleitet. Im Internat lernt sie Robyn kennen, die ihr eine verständnis- und liebevolle Freundin wird. Aber auch ihr kann sie nicht alles erzählen, was sie bedrückt. Von der kleinen Schwester, die so ganz anders war als sie selbst: wild und respektlos. Vom autoritären Vater, der nicht nur Laika disziplinieren will sondern die ganze Familie. Verschiedene Leben Es gibt viele Vermutungen nach dem Verschwinden Laikas – auch der Vater gerät in Verdacht. Als „niederträchtig“, ja „tollwütig“ empfindet Willa die Medien, die nach Laikas Verschwinden das Haus belagern. Die Vergangenheit lässt sie nicht los, sie sucht ihre Schwester in aller Welt – vergeblich. So vergehen die Jahre. Robyn ist inzwischen mit Cat verheiratet, die Frauen haben zwei Kinder. Und Willa hat einen Verlobten,…
Eva Rossmann ist Verfassungsjuristin und politische Journalistin. Für ihre Krimis mit der Wiener Journalistin Mira Valensky und deren aus Bosnien stammende Freundin und ehemalige Putzfrau Vesna Krajner wurde sie mehrfach ausgezeichnet, 2024 mit dem Österreichischen Krimipreis. Der neue Krimi „Alles Gute“ dreht sich um eine App gegen die Spaltung der Gesellschaft. Nichts Gutes für den Erfinder Klingt doch gut. Wer würde sich so ein Tool nicht wünschen? Gerade in der heutigen Zeit mit den tiefen Gräben im Volk. Doch dem Erfinder, dem Geschichtslehrer Peter Gruber, hat die App „LISA wünscht alles Gute“ nichts Gutes gebracht. Das Strichmännchen seiner kleinen Nichte Lisa hat zwar jede Menge Menschen dazu animiert, die App runterzuladen und ihn damit reich gemacht. Aber nun fühlt sich Gruber verfolgt. Angst vor den Folgen Der Mann, der im Unterricht immer wieder auf die Parallelen zwischen der heutigen Zeit und den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hingewiesen hat, hat Sorge, dass seine App von geldgierigen Internet-Firmen missbraucht werden könnte – um Daten abzugreifen. Und dass skrupellose Geschäftemacher sich womöglich auch an seiner kleinen Nichte vergreifen. Hass und Milliarden-Geschäfte Gruber bittet Mira und Vesna um Hilfe. Die beiden verstehen zunächst nur Bahnhof. Aber dann verschwindet der Lehrer und Mira und…