Es fängt schon damit an, dass er am Anfang etwas klarstellt und damit erst recht neugierig macht: „Manches von dem Folgenden ist wirklich geschehen,“ schreibt der Österreicher Norbert Gstrein („Das Handwerk des Tötens“, „Eine Ahnung vom Anfang“) noch bevor sein Roman „In der freien Welt“ über den Nahost-Konflikt anfängt: „Aber ich bin nicht ich, er ist nicht er, sie ist nicht sie, die alte Geschichte.“ Stimmt das, will man sofort wissen und vergleicht die Lebensdaten des Autors mit seinem fiktiven Ich-Erzähler Hugo, einem österreichischen Autor. Da gibt es viele Parallelen, aber die sind wohl weniger wichtig für das Verständnis dieses ambitionierten Romans als Hugos Freund John, der jüdische Schriftsteller, der sich selbst als „Muskeljude“ bezeichnet und der in San Francisco erschossen wird. Hugo macht sich auf eine globale Spurensuche und nimmt die Leser mit auf die Reise – von San Francisco und New York nach Alaska und Tel Aviv, nach Jerusalem und ins Westjordanland, ins KZ Mauthausen und ins Salzkammergut. Er will die Wahrheit über den Tod des Freundes wissen und kommt ihm doch nicht wirklich näher. Im Gegenteil. Rätselhafte Zwillings-Metaphern Wie Hugo zwischen den Fronten des Nahost-Konflikts mäandert, scheint sein Bild von John zwischen hell und dunkel zu schwanken….
Kaffee ist für uns ein selbstverständliches Genussmittel. Das war nicht immer so, erst im 17. Jahrhundert wurde das Getränk, damals Kahve genannt, auch in Europa bekannt. Das Monopol auf das begehrte Getränk hatten allerdings die Osmanen. Dieser geschichtliche Hintergrund inspirierte den Autor Tom Hillenbrand, der mit seinen Krimis um den Luxemburger Koch Xavier Kiefer immer schon gerne ein Stück Lebensmittelgeschichte schrieb. Nun also taucht Hillenbrand mit dem „Kaffeedieb“ tief ein in die Geschichte der Ostindien Compagnie, die ihr Handels-Großreich ohne viel Skrupel über die damals bekannte Welt ausdehnt. Auch der Engländer Obediah Chalon, der mit Börsenspekulationen eine spektakuläre Pleite hingelegt hat, gerät in die Fänge der Compagnie. Nicht ganz freiwillig verpflichtet er sich, den Osmanen die wertvollen Kaffeestauden zu stehlen. Das ganze Personal traditioneller Schelmen- und Abenteuerromane Damit beginnt ein Abenteuer, das so ungleiche Partner wie einen bärbeißigen Seemann, eine Hochstaplerin, einen jungen Hugenotten und einen italienischen Feingeist zusammenführt. Hinzu kommen noch ein mit allen Wassern gewaschener Bastard des Sonnenkönigs, eine junge in den Wissenschaften auffällig bewanderte Jüdin – und natürlich Obediah selbst, der sich bei der Planung des Diebstahls auf seine internationalen Beziehungen ebenso stützt wie auf eine intelligente Verschlüsselung der Briefe, die den Inhalt vor den Spähern des…
Ein altes serbisches Ehepaar wird im Kosovo ermordet. Von nationalistischen Albanern, die die Rückkehr der Serben mit Misstrauen betrachten? Weil ihr Onkel liebevolle Erinnerungen an die Frau hat, macht sich Milena Lukin auf die Suche nach dem Mörder – und bringt sich dabei selbst in Lebensgefahr. Doch obwohl sie in dem albanischen Dorf die Feindschaft der Bewohner zu spüren bekommt, erhärtet sich ihr Verdacht, dass hinter dem Mord andere Interessen stecken. Sie sieht das Haus der alten Leute, eine Bruchbude ohne Strom und Wasser. Sie hört von EU-Geldern, die für die Rückführung der vertriebenen Serben fließen und fragt sich wohin. Sohn und Tochter der Ermordeten können ihr nicht weiter helfen, aber der Zufall bringt sie auf die richtige Spur. Nach Kornblumenblau hat das Duo Christian Schönemann und Jelena Volic mit Pfingstrosenrot wieder einen spannenden Krimi vorgelegt, der nicht nur den ungelösten Konflikt zwischen Serben und Albanern im Kosovo thematisiert, sondern auch die Probleme aufzeigt, mit denen die europäische Politik konfrontiert ist. Milena beklagt das Verschwinden einer ganzen Kultur, die Engstirnigkeit der Nationalisten und die ungebremste Vetternwirtschaft: „Über Jahrhunderte waren die Kulturen zusammengewachsen, hatten sich ergänzt und bereichert, und jetzt wurde von Politikern und Nationalisten penibel nach den Unterschieden gesucht. Diese…
Owen Sheers gilt als „Universalgenie der britischen Gegenwartsliteratur“. Der 1974 in Fidji geborene Autor hat Gedichte geschrieben, Romane, Dramen. Auch ein Sachbuch und ein Libretto hat er verfasst. Mit „I saw a man“ hat sich Sheers nach eigener Aussage „erstmals einem Gesellschaftsroman über unsere Zeit zugewendet“. Der Roman startet furios wie ein Psychothriller. Ein Mann betritt das Haus der befreundeten Nachbarn durch die Hintertür. Klingt nicht aufregend, lässt aber durch den ersten Satz („Der Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte“) ahnen, dass dieser ungebetene Besuch Folgen haben wird. Auf die Aufklärung, warum das so ist, lässt Sheers die Leser über 160 Seiten lang warten. Denn, was er zeigen will, ist weit mehr. Es geht darum, wie alles miteinander zusammenhängt. Um den berühmten Reissack, der in Indien umfällt, oder den Schlag des Schmetterlings in Südamerika, die beide weltweit Folgen haben. Sheers bricht diese Erkenntnis auf das Privatleben seiner Protagonisten herunter. Michael, ein Autor, der sich immer wieder erfolgreich in das Leben anderer einschleicht und daraus seinen Roman-Honig saugt, hat seine Frau Caroline, eine ehrgeizige Journalistin, die „embedded“ auf Recherche in Pakistan war, bei einem amerikanischen Drohnen-Angriff auf einen Terror-Chef verloren. In London hat er sich mit seinen Nachbarn Josh und Samantha…
„Ich mein‘, wenn man sein ganzes Leben in die falsche Richtung läuft, kann’s trotzdem das Richtige sein?“ In seinem Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ gibt Benedict Wells keine einfache Antwort auf diese Frage. Er skizziert verschiedene Lebensentwürfe, die allesamt auf schlimmen Kindheitserinnerungen basieren. Und er zeigt, wie die jahrelang verdrängten Traumata unerwartet in den Alltag einbrechen und die dünne Schutzwand zerreißen können – seelischer Sprengstoff. „Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind“, heißt es in dem Buch. „Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“ Von diesem Feind und seiner Überwindung handelt Benedict Wells‘ ebenso trauriger wie tröstlicher Roman. Sie wachsen behütet zwischen Deutschland und Frankreich auf und sind doch so unterschiedlich: Jules, der lustige Kerl, überall beliebt. Marty, der grüblerische Einsiedler und Liz, die Träumerin. Und dann kommen die Eltern bei einem Unfall ums Leben, die Geschwister werden auseinander gerissen und alles ist plötzlich ganz anders. Ausgerechnet Jules wird zum Underdog, während Marty sein Nerd-Sein mit Gleichgesinnten pflegt und Liz ihre Lebensgier mit Drogen und Sex auslebt. Wäre da nicht Alva, das stille rothaarige Mädchen mit der Brille, Jules wäre verloren. Daran erinnert sich der mittlerweile längst erwachsene Jules, inzwischen selbst Vater von Zwillingen, als er nach einem Motorradunfall…
Friedrich Wilhelm I. regierte sparsam so wie er lebte. Und doch gab der Pfennigfuchser das Geld mit vollen Händen aus – fürs Militär, am liebsten für die „Langen Kerls“, die er sammelte wie andere Menschen vielleicht Zinnsoldaten. Mindestens 1,88 Meter groß sollten seine Riesen sein. Im damaligen Europa eher eine Seltenheit. Deshalb ließ der König jeden jungen Mann entführen, der auch nur annähernd dem Gardemaß entsprach. Dass er damit Familien auseinanderriss, Lebenspläne zerstörte, Menschen versklavte, kümmerte den Despoten nicht. Thomas Meyer hat mit „Rechnung über meine Dukaten“ eine Geschichte hinter der Geschichte geschrieben, urkomisch und weise. Auch Gerlach, ein Bauernsohn aus Sachsen, entspricht dem Gardemaß und wird entführt. Doch Gerlach will sich nicht mit seinem Schicksal abfinden und plant gemeinsam mit dem Norweger Hendrikson seine Flucht. Der König allerdings hat ihn für Größeres vorgesehen: Unter seinem Kommando soll eine „Gigantenrasse“ entstehen – mit Gerlach als Urvater und der großgewachsenen Bäckerstochter Betje als Urmutter. Gerlach und Betje mögen einander, sahen aber bislang keine Möglichkeit zusammenzukommen. Nun hat sie eine Grille des Königs vereint. Wie schon in seinem letzten Roman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme eine Schickse“ zeigt Meyer auch hier eine schier unbändige Fabulierfreude, wobei er sich genüssliche einer altväterlichen…
Bayerische Paradiese: Ein Bildband zeigt Seen, Flüsse und Berge aus der Luft „Die Bilder holen den Himmel auf die Erde“, schreibt Tom Werneck im Vorwort zum Bildband „Bayerische Paradiese“, der grandiosen Luftaufnahmen von Jörg Bodenbender versammelt. Es sind vor allem die bayerischen Berge und Seen, die es dem Fotografen angetan haben. Sie porträtiert er in ihrer ganzen Schönheit: Die Seen wie blaue und grüne Augen in der Landschaft, die Berge Nebel umhangen, Schnee bestäubt, die Täler mit ihren Spielzeughäusern, den Menschlein und den geometrischen Feldern in gelb, grün und ocker. Bodenbender lädt den Betrachter ein, vom Himmel herab auf die Erde zu schauen – mit Adleraugen. Denn die Fotos sind gestochen scharf bis ins letzte Detail, besonders schön zu sehen bei den Booten auf dem funkelnden Wörthsee, der Pferdewallfahrt zum Kirchlein St. Coloman oder der Kampenwand im winterlichen Morgenlicht. Es sind Bilder, die nicht nur Bergfreunden das Herz aufgehen lassen. Bilder auch, die Bescheidenheit lehren, weil sie den Menschen nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern ihm angesichts der überwältigenden Natur seine Bedeutungslosigkeit vor Augen führen. Ohne technische Hilfsmittel hätte auch der Fotograf diese Aufnahmen nicht machen können. Doch die schwierigen Umstände, allein mit einem Doppelsitzer und seiner Kamera auf Motivsuche…
Ihr Roman „Zeit der Unschuld“ aus dem Jahr 1920 wurde mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, dennoch stand Edith Wharton immer im Schatten von Henry James. Zu Unrecht, wie die Neu-Übersetzung ihres Meisterwerks durch Andrea Ott zeigt. Wharton stellt einen jungen New Yorker der Oberklasse in den Mittelpunkt: Newland Archer steht kurz vor der Heirat mit der jungen, hübschen und ach so unschuldigen May Welland, eine von der einflussreichen High Society der damaligen Kleinstadt goutierte Verbindung. Doch dann begegnet er Mays unangepasster Cousine Ellen. Die Gräfin Olenska hat ihren ungarischen Mann verlassen und ist zu ihrer Familie zurückgekehrt, ein Skandal. Denn Frauen haben nach der vorherrschenden Meinung jener Zeit bei ihrem Mann auszuharren – in guten wie in schlechten Zeiten. Der junge Anwalt Newland ist fasziniert von der gereiften Frau, die als Kind seine Spielgenossin war. Ist es ihre dunkle Schönheit, die ihn anzieht, oder ihre obskure Vergangenheit? Die Begegnung mit der Gräfin Olenska und die unbarmherzige Kritik der feinen Gesellschaft an ihr sensibilisieren den jungen Mann für die Doppelmoral, in der es sich vor allem die Männer bequem gemacht haben. Er spürt das Korsett der Konventionen, das ihm die Luft zum Atmen zu nehmen droht. Spürt, wie die erstickende Enge…
Tamaso ist 16 und freut sich auf den Schulabschluss, den er mit seiner Familie feiern will, als er vom coronischen Geheimdienst abgeholt wird. Mit 19 Gleichaltrigen landet er in einem Ausbildungscamp, wo die Jugendlichen dafür gedrillt werden, in Flore, der gefährlichsten Diktatur der Welt zu spionieren. Tamaso landet als „Mechaniker“ im Haus des mächtigen Marschalls, wo Puppenspieler gerade ein altes florianisches Märchen proben. Dabei geht es um einen skrupellosen Alchemisten, der nach der Macht im Staat greift. Dazu hat er einen Klon des jungen Königs entwickelt und den echten König in eine mechanische Puppe eingesperrt. Nur die fünf Freunde des verwunschenen Königs fallen nicht auf den Tausch rein und wagen den Kampf gegen den allmächtigen Alchemisten. Während Tamaso staunend die Inszenierung verfolgt, wird er Zeuge, wie im Keller des Hauses Gegner des Marschalls gefoltert und ermordet werden. Die Wirklichkeit in Flore scheint sich immer mehr dem Märchen anzunähern. Wie die fünf Freunde des jungen Königs müssen auch Tomaso und vier Freunde, darunter die Zwillinge Silvan und Kester, gegen einen übermächtigen Feind kämpfen. Wie der junge König, der im Klon sein Spiegelbild erkennt, sind die Zwillingsbrüder kaum voneinander zu unterscheiden. Dabei ahnen die Protagonisten nicht einmal, wie sehr sie den Marionetten…
Er ist ein Schatzsucher mit der Kamera. Seine Schätze findet der in Xanten geborene Sven Fennema überall in Europa, wo Menschen gelebt haben und gegangen sind. Fennema ist auf der Suche nach verlassenen Orten, nach Stätten der Vergänglichkeit, Zeugen einer verlorenen Zeit. Der schwergewichtige und luxuriös aufgemachte Bildband „Nostalgia“ versammelt die Fotografien solcher „lost places“ in Italien. Es sind Bilder, die Geschichten erzählen, wie die Italienkennerin und Autorin Petra Reski gleich zu Anfang schreibt, suggestive Bilder, die den Betrachter hineinziehen in verfallende Paläste, in verrottende Pracht und verwaiste Krankensäle. Bilder, die ihm die Vergänglichkeit vor Augen führen auch anhand industrieller Hinterlassenschaften. Das ganze Buch ist menschenleere Bühne und gerade deshalb von einem fast magischen Zauber. Petra Reskis Geschichten und Zitate italienischer Dichter tragen das Ihre zu diesem Zauber bei, füllen sie doch die entleerten Bilder mit gespenstischem Leben, wecken Träume und Assoziationen. Man könnte sich verlieren in diesen Dokumenten einer verlorenen Zeit, blättert staunend durch die Seiten und wundert sich, wie schön Verfall sein kann. Info: Sven Fennema, Petra Reski: Nostalgia – Orte der verlorenen Zeit, Frederking & Thaler, 320 S., 98 Euro, http://www.frederking-thaler.de/titel-16186-nostalgia_157.html