Francesca Segal ist die Tochter von Erich Segal, der mit „Love Story“ einen Mega-Seller geschrieben hatte. Die 37-Jährige scheint das Schreib-Talent ihres Vaters geerbt zu haben, nicht aber dessen Hang zum Melodram. Schon ihr erster Roman „Die Arglosen“ zeigt, dass es der Journalistin, die in Oxford und Harvard studiert hat, die Komplexität der menschlichen Natur angetan hat. Von Liebesdreieck zum Quartett Ging es da um eine Art Liebesdreieck, bei dem sich der Protagonist zwischen zwei gegensätzlichen Frauen hin- und hergerissen sieht, arrangiert Segal in ihrem neuen Roman „Ein sonderbares Alter“ ein Quartett. Auf der einen Seite zwei Erwachsene, die verwitwete Julia und den geschiedenen James, die den Rest ihres Lebens gemeinsam genießen wollen, auf der anderen Seite ihre Kinder Gwen und Nathan, beide an der Schwelle zum Erwachsenen-Alter und entsprechend renitent. Es fängt schon gut an: „Die Teenager würden wieder alles kaputt machen.“ So lautet der erste Satz – und so geht es weiter, bis Julia und James die eigene Liebe infrage stellen. Pubertät und Patchwork befeuern sich gegenseitig, bis es zur Explosion kommt. Jenseits aller rosigen Patchwork-Klischees Um das ungleiche Quartett herum hat Segal weiteres Personal gruppiert, das sie ebenso sorgfältig skizziert wie ihre Hauptfiguren: Julias ungleiche Schwiegereltern, James‘ flippige…
„Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“ Was Bert Brecht über seine Schulzeit geschrieben hat, hätte auch William James Sidis unterschreiben können. Der „Held“ in Klaus Cäsar Zehrers Debütroman „Das Genie“ hat die Schulzeit regelrecht durchlitten. Nicht, weil er über- sondern weil er unterfordert war. Denn William James war von seinen Eltern, dem ehrgeizigen und ebenfalls genialen Psychologen Boris Sidis und dessen zur Medizinerin promovierten Ehefrau regelrecht zu einem Genie herangezüchtet worden. Dem Überflieger wurde das Wissen der Welt eingetrichtert Schon im Grundschulalter beherrschte Billy mehrere Sprachen und ließ in Mathematik die Lehrer alt aussehen. Doch der Überflieger, dem schon als Baby das Wissen der Welt eingetrichtert wurde, stößt mit seiner geschwätzigen Besserwisserei seine Mitmenschen vor den Kopf. Rücksichtnahme auf andere hat er nie gelernt, Liebe nie erfahren. Billy ist kreuzunglücklich. Lieber wäre er ein ganz normaler Mensch statt ein Genie: „All diese Leute, dachte William, waren normal, ohne dass es sie Anstrengung kostete. Die Normalität fiel ihnen so leicht wie ihre Muttersprache. Seine Muttersprache war die Außergewöhnlichkeit. Das war der Fluch seines Lebens: Es gab niemanden, mit dem er in seiner Sprache reden konnte.“ Das Genie rebelliert gegen die…
Vieles kennen wir aus der täglichen Zeitungslektüre oder den Fernsehnachrichten: Menschen auf der Flucht, Religionskriege, Tod und Zerstörung. Nichts Neues unter der Sonne, dann all das gab es auch früher schon, vor nahezu 1000 Jahren. Stefan Hertmans holt diese Zeit in die Gegenwart und macht daraus einen beklemmenden Roman. Eine Zeit des Aberglaubens und des Umbruchs „Die Fremde“ spielt im dunkelsten Mittelalter, damals, als Papst Urban II. zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen aufrief. Zu einer Zeit, als die Juden für alles Übel auf der Welt verantwortlich gemacht wurden und Pogrome auch Kleinkinder nicht verschonten. Es war eine Zeit der Aberglaubens und des Umbruchs. „Es sind schwierige Zeiten. Der einst von Karl dem Großen gestiftete religiöse Friede zerbricht, die politische Lage ist unsicher. Feudale Kriegsherren reißen die Macht an sich… Man hört von Missständen, die Gesetze werden immer willkürlicher angewendet. Nachdem Juden und Christen mehrere Jahrhunderte lang recht einvernehmlich miteinander gelebt haben, hört man nun immer öfter von brutalen Überfällen auf jüdische Gemeinden. Außerdem sind in den letzten Monaten viele Juden aus Spanien in den Süden der Provence geflüchtet, vor allem nach Narbonne. Die kleine Stadt wird von Heimatlosen überschwemmt, die auf der Suche nach dem Glück sind oder einfach nur…
„Immer, wenn zwei Menschen ein Paar werden, verändern sie sich ein Stück weit. Sienehmen vielleicht neue Interessen des Partners an oder lassen alte Gewohnheiten sein. Das ist ganz normal und wird meistens akzeptiert. Be3i uns schauen dagegen alle ganz genau hin und unterstellen uns, dass unsere unterschiedlichen Kulturen und Religionen ‚schuld‘ daran seien.“ Eine Deutsche und ein Israeli werden ein Paar Natürlich ist bei einem deutsch-israelischen Paar vieles anders als bei anderen Paaren. Noch dazu, wenn die beiden gleich zwei Mal heiraten: christlich und jüdisch. Auch die deutsche Schauspielerin Claudia Schwartz weiß, dass ihre Liebesgeschichte etwas Besonderes ist. Sonst hätte sie wohl dieses Buch nicht geschrieben. „Meschugge sind wir beide“ heißt es und erzählt, wie Claudia und der israelische Komponist Shaul Bustan ein Paar geworden sind. Zwischen Geschichte und Gegenwart Anfangs war alles so wie es bei anderen Paaren auch ist: Ein Mann und eine Frau verlieben sich in einander. Doch beiden ist schnell bewusst, dass es auch viel Trennendes gibt, vor allem die Geschichte der Großeltern. Shaul kommt aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden, Claudias Großvater diente in der Wehrmacht. Wie sollen die Enkel mit dieser Geschichte leben? Für Shaul scheint das Ganze weniger kompliziert als für Claudia. Das liegt…
Unsere Gesellschaft wird älter und muss sich eingestehen, dass manche Vorurteile überholt sind. Zum Beispiel, dass alte Leute mit einem Leben am Rand der Gesellschaft zufrieden sind, dass es ihnen genügt, ihre Enkelkinder auf den Knien zu schaukeln. Dass Liebe und Sex endgültig vorbei sind. Die Realität sieht anders aus: Politiker bleiben bis ins hohe Alter aktiv, Kleriker kommen erst ab einem gewissen Alter zu Papst-Ehren und selbst der Normalbürger mischt sich auch als Rentner noch ein. Und selbst die Liebe macht nicht halt vor dem Alter. Aber noch immer grenzt es an ein Tabu, wenn alte Leute sich zusammen und womöglich „es“ tun. Das Unsagbare „in ihrem Alter“! Zwei einsame Alte finden zusammen Kent Haruf hat darüber ein ebenso berührendes wie nachdenklich machendes Buch geschrieben. „Unsere Seelen bei Nacht“ erzählt davon, wie sich zwei einsame Alte zusammenfinden und wie die Gesellschaft alles tut, um sie wieder auseinander zu bringen. Was in der Kleinstadt in Colorado geschieht, könnte ebenso in einem Allgäuer Dorf passieren. Da, wo jede jeden kennt, wo die Fenster Augen und die Türen Ohren haben. Dabei ist die Idee der 70-jährigen Witwe Addie ganz sympathisch. Sie fragt ihren ebenfalls alleinlebenden Nachbarn Louis, ob er nicht ab und…
Wie sich die Zeiten gleichen: Landliebe war vor gut 200 Jahren in England ebenso angesagt wie heute, Bücher über Design und Gärten florierten. Und ebenso wie heute waren die Zeiten kritisch: Die Französische Revolution fegte alles hinweg, was bis dahin als sicher galt, Napoleon überzog Europa mit Kriegen und veränderte die Weltordnung. Und Jane Austen? Schrieb über den englischen Landadel, über Vernunft und Gefühl, Stolz und Vorurteil. Gallig kommentierte John Updike das Fehlen jeglichen politischen Hintergrunds in den Austen-Romanen: „Für Jane Austen war Napoleon der Grund dafür, dass die englische Landschaft so sparsam mit künftigen Ehemännern ausgestattet war.“ Jane Austen wird mit Dickens und Shakespeare verglichen Und heute: Die Welt ist in Aufruhr, Hunderttausende fliehen vor Krieg und Elend, und Jane Austens Romane sind so beliebt wie schon lange nicht mehr. Ist es die Flucht aus der Realität, zu der ihre Romane einladen, die Sehnsucht nach einer geordneten, überschaubaren Welt? Oder ist Jane Austen wirklich die große Schriftstellerin als die sie zu ihrem 200. Todestag gerühmt wird, vergleichbar mit Dickens und Shakespeare? Ihren Zeitgenossen blieb die Pfarrerstochter lange Zeit eine Unbekannte. 1811, da war sie 36 Jahre alt, erschien „Sense and Sensibility“ mit der schlichten Autorenangabe: „By a lady“. Erst…
Am 14. Juli 2016, vor einem Jahr, starb Péter Esterházy, da war der studierte Mathematiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 66 Jahre alt. Das Ende seines Lebens hat der ungarische Autor in einem „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ verarbeitet, das teilweise verstörend ehrlich die mit seiner Krebserkrankung einhergehenden Veränderungen seines Körpers und seines Alltags schildert. Die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs trifft ihn völlig unerwartet. Am 24. Mai 2015 beginnt er sein Tagebuch. Die Drüse drängt sich ihm auf wie eine verschmähte Geliebte Es ist der Versuch, mit den Mitteln der Sprache die Hoheit über sein Leben zurückzugewinnen. „Ich versuchte, versuche, das Unheil am Schlafittchen zu packen. Es unter das Joch der Sätze zu zwingen,“ schreibt er im ersten Eintrag. Er berichtet über sich, die Krankheit, die Familie, das Leben. Er isst, was ihm schmeckt, liest, was ihn tröstet, fragt nach, was ihm fehlt und beschäftigt sich intensiv mit dem Organ, das sein Leben bedroht. Die bislang unbeachtete Drüse drängt sich ihm auf wie ein unwillkommene Geliebte. Mutzi nennt er sie, Bauchspeichelchen, B., wenn er mit ihr streitet und manchmal auch flirtet. Ist sie doch ganz und gar die seine – bis zum Tod. Sie ärgert ihn nicht wie die Freunde oder Bekannten, die ihn aufzumuntern versuchen…
Er war ein stiller Mensch, aber er konnte auch laut werden, wenn er Ungerechtigkeit erlebte. Peter Härtling, selbst ein Flüchtlingsjunge, hat sich mit dem Roman „Djadi, Flüchtlingsjunge“ verabschiedet. Es war sein letztes Buch, ein literarischer Nachlass. Jetzt ist der 1933 in Chemnitz geborene Härtling, der im mährischen Olmütz aufwuchs und mit der Mutter nach Nürtingen kam, tot. Doch seine Bücher leben weiter und erzählen vom Schicksal der Geflüchteten aller Nationen. Härtling, der die Vergewaltigung der Mutter erlebt und ihren Selbstmord überlebt hat, konnte sich einfühlen in die Flüchtlinge von heute, in das Leid der Kinder. Und er mischte sich ein, war aktiv in der Friedensbewegung und engagierte sich im Umweltschutz. Die Bilder vom aktuellen Flüchtlingselend entsetzten ihn. Hier meine Besprechung seines letzten Buches: Angepasst an die neue Heimat – und dann? Der zehnjährige Flüchtlingsjunge Djadi kommt mutterseelenallein nach Deutschland und wird von einer Alten-WG aufgenommen. Vor allem den Mann, der ihn „gefunden“ hat, und seine Frau werden zu Djadis Ersatzeltern. Aber auch die anderen kümmern sich um den eltern- und heimatlosen Jungen. Nur das Jugendamt macht erst einmal Schwierigkeiten wegen der eher ungewöhnlichen Lebensverhältnisse. Aber allmählich findet sich Djadi zurecht, passt sich an. Anders geht es ja nicht in unserem…
Er wollte nicht dahin, wohin der Lonely Planet Abenteuerreisende schickt, und schon gar nicht dahin, wo es die Touristenmassen hinzieht. Stephan Orth sucht „die Anti-Ästhetik von einem Ausmaß, dass einem die Sinne schwinden“. Auf der Suche nach Hässlichkeit mit Wow-Effekt Er will Reisen als Thriller, Hässlichkeit mit Wow-Effekt. Und davon findet er jede Menge als Couchsurfer in Russland. Nicht nur gleich am Anfang in der Mine von Mirny, dem „Arschloch der Welt“, auch unterwegs in den Weiten des Landes zwischen Kaukasus und Sibirien. Zehn Wochen lang bereist er Russland, lässt sich auf den Alltag der Menschen ein, versucht, dem Phänomen Putin auf die Spur zu kommen und schont sich nicht. Der Autor lässt sich von der russischen Seele rühren Er macht alles mit, trifft wilde Kerle und schöne Frauen, schläft mal auf dem Boden, mal im Zelt, mal in einer Datsche ganz für sich allein, pendelt vom muslimisch geprägten Dagestan ins buddhistische Kalmückien, kommt dem „Jesus Sibiriens“, Wissarion, in seiner Sonnenstadt nahe, reist von der Krim nach St. Petersburg, lässt sich im Mariinskij-Theater von „Schwanensee“ rühren und von der russischen Seele und nimmt unter anderem diese Erkenntnis mit: „Mit dem Satz ‚Das ist Russland‘ lassen sich viele Sachverhalte erklären, für…
Sie hat immer wieder aktuelle Probleme angepackt und gezeigt, welche Abgründe sich hinter manch einer heilen Fassade verbergen können. Kein Wunder, kannte Viveca Sten doch aus ihrer Zeit als Chefjuristin bei der dänischen und schwedischen Post so manche Kniffe, wie sich Beschuldigte aus der Affäre ziehen. Im neuesten Krimi, der wie alle anderen auf ihrer Lieblingsinsel Sandhamn spielt, zieht Sten wieder alle Register ihres Könnens und hält die Spannung bis zum Ende aufrecht, das diesmal sogar versierte Krimi-Leser überrascht. Im Segelcamp mobben die Größeren den Kleineren Ihr sympathischer Kommissar Thomas Andreasson hat es im achten Roman der Sten-Krimis mit einem besonders fiesen Fall zu tun. Aus einem Segelcamp ist ein kleiner Junge verschwunden. Thomas erfährt, dass der eher schüchterne Benjamin schon im Lager von größeren Jungs gemobbt und gedemütigt wurde. Ist er davongelaufen und womöglich ertrunken? Oder wurde er entführt? Von einem Pädophilen, der sich in der Gegend herumtreibt? Von einem Erpresser? Für den Kommissar, der auch mit privaten Problemen zu kämpfen hat, die mit seiner Rückkehr zur Polizei zu tun haben, beginnt ein Rennen mit der Zeit. Was er nicht ahnt, ist, dass seine Jugendfreundin Nora, die kurz vor ihrer Hochzeit steht, einen Betrugsfall verhandelt, in den der Vater…