Gegen den Strom
Rezensionen / 3. Dezember 2017

„Letztlich ist unsere Reise auch so ein Gegenentwurf, ein Gegenentwurf zu dem Touristenstrom, der sich durch den Rest Kopenhagens wälzt. Zu der Jetterei an die angesagtesten Destinationen dieser Welt.“ Die Journalistin Svenja Beller und der Fotograf Roman Pawlowski sind auch schon mitgejettet, waren am „Banana Pancake Trail“ in Südostasien, in Peru und in Nepal. Aber diesmal wollten sie alles anders machen, wollten sich treiben lassen – immer in Richtung Norden und teilhaben an fremden Leben. Das ist ihnen auch gelungen, sie haben jede Menge interessanter und teilnehmender Menschen kennengelernt, sind der Natur so nahe gekommen wie nie zuvor und haben auch erfahren, was es heißt zu scheitern. Gespräche öffneten Türen und Herzen Denn sie haben auf alles verzichtet, „was einen Filter zwischen uns und unsere Umgebung schiebt: Reiseführer, Smartphone, Laptop, Hotels, Vorrecherche“. Das hat sie vor manche Herausforderung gestellt, hat ihnen aber auch so manches Abenteuer beschert. Sich unbekannten Menschen aufzudrängen, fiel dem Paar nicht immer leicht, aber Gespräche öffneten vielfach Türen und auch Herzen. So reisen die beiden über Dänemark und Schweden bis weit hinauf in den Norden Norwegens, übernachten im eigenen kleinen Zelt, in Wohnwagen und Hütten, in Schlaf- und Wohnzimmern, am Strand und im Vorgarten – und…

Reise ins Unbekannte
Rezensionen / 26. November 2017

Anhand einer alten Landkarte macht sich die Journalistin Andrea Böhm auf, um aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Die „Erkundung auf vier Kontinenten“ führte zu dem Buch „Das Ende der westlichen Weltordnung“. Andrea Böhm ist ein politischer Mensch. Sie arbeitete als Redakteurin für GEO, ZEIT und taz. Ihre Reportagen wurden mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Als Nahost-Korrespondentin berichtet sie derzeit für Die ZEIT aus Beirut. Das muss man wissen, bevor man ihr Buch zur Hand nimmt. Denn Böhm ist nicht auf touristischen Wegen unterwegs – auch wenn Touristen ihr Buch unbedingt lesen sollten. Die Vergangenheit reicht bis in die Gegenwart Sie wagt sich in Gegenden, die vom Terror des IS bedroht sind, in Landschaften der Zerstörung, wo die Menschen in Ruinen hausen. Sie reist nach Somalia und nach Somaliland, das „für den Rest der Welt nicht existiert“. Sie trifft in Mogadishu und im chinesischen Guangzhou, im Libanon, in Palästina und im Irak auf Menschen, die sie durch ihren Lebensmut und ihr Engagement beeindrucken. Und überall stößt sie auf eine Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reicht, den zerstörerischen Kolonialismus, die Allmachtsfantasien der USA und noch weiter zurück das Erbe des Commonwealth. Das Auf und Ab der Geschichte Doch Böhm…

Sheherazade lässt grüßen
Rezensionen / 29. Oktober 2017

Einen seltsamen Deal bietet die alte Jean Culver der jungen Kate an: Ihre Familiengeschichte gegen deren Alkoholabstinenz. Denn Kate hat Probleme, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters bei Ashland & Vine hat sie ihr Studium geschmissen und lebt in einer schwierigen Beziehung mit dem exzentrischen Lauritz. Dass Kate sich auf den Deal einlässt, ist ein erster Schritt in ein neues, bewussteres Leben. Die Tiefpunkt der amerikanischen Geschichte John Burnside erzählt in dieser neuen Sheherazade-Adaption kein Märchen, sondern mit Jeans Familiensaga – eine verlorene Geliebte, der Neffe im Krieg verschollen, die Nichte im revolutionären Untergrund – auch die Geschichte Amerikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem die verstörenden Tiefpunkte wie das Massaker von My Lai im Vietnamkrieg, die Kommunistenhatz der McCarthy Ära, die bombenden Weathermen. Über die Macht der Erzählung Im engen Austausch mit Jean in deren Haus im verzauberten Garten gewinnt Kates Leben wieder eigene Konturen. Wie Lauritz hat sie mehr in der Inszenierung als in der Realität gelebt. Es geht um viel in diesem mit großer Meisterschaft geschriebenen Roman: Um Identität und Idealismus, um Liebe und Engagement, vor allem aber geht es um die Macht der Erzählung und…

Türkei: Vom Brücken- zum Krisenstaat
Rezensionen / 19. Oktober 2017

Dem deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner droht eine Anklage wegen versuchten Umsturzes, die deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft, die aus Ulm stammende Frau sogar mit ihrem zweijährigen Kind. Die Türkei, jahrelang eines der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen, wandelt sich immer mehr zum Krisenstaat. Kann man unter diesen Umständen heute noch in die Türkei reisen? Von Atatürk zu Erdogan Wer sich mit dem Thema beschäftigt, sollte das Buch von Hasnain Kazim lesen. Der Spiegel-Korrespondent mit pakistanischen Wurzeln beschreibt darin nicht nur Erdogans Aufstieg, sondern verweist auch auf die Geschichte der Türkei und die Rolle Atatürks, des lange fast religiös verehrten Vaters der modernen Türkei. Dieser geschichtliche Exkurs vermittelt auch Verständnis für Erdogans eigene Entwicklung vom Versöhner zum Spalter. Traum vom osmanischen Reich Der tief im islamischen Glauben verwurzelte Politiker träume von einer Renaissance des osmanischen Reichs, ist Kazim überzeugt. Sichtbares Zeichen für den Einfluss des Islams auf die Gesellschaft im bislang eher als säkulär wahrgenommenen Istanbul soll die Mega-Moschee in Camlica sein. Der rund 70 Millionen Euro teure Bau gilt als „Herzensangelegenheit“ Erdogans. Und sie ist nicht der einzige Moschee-Neubau: „Seit Erdogan die politische Bühne betreten hat, sind in der Türkei mehr als siebzehntausend neue…

Arme Poetin
Rezensionen / 30. September 2017

Spitzwegs „armer Poet“ lässt grüßen: Sophie, erfolglose Journalistin und Autorin, hat nichts als Schulden. In ihrer winzigen Bude schmiedet sie hungernd Pläne, wie sie wieder zu Geld kommen könnte. Womöglich, indem sie ihre Situation literarisch aufarbeitet. Sophie Divry schildert in dem Roman „Als der Teufel aus dem Badezimmer kam“ mit bissigem Witz das brotlose Leben ihres literarischen Alter Egos. Spiel mit Worten und Sätzen   Sophie, 40, wieder Single und ohne Einkommen, hat nach dem Bezahlen ihrer Stromrechnung eine Sorge mehr. Genau 17,70 Euro bleiben ihr zum Leben. Das reicht hinten und vorne nicht. Sie will sich nicht durch-schmarotzen, verkauft einen Toaster bei ebay, verhökert später auch Bücher, viel mehr hat sie nicht – und hungert. Das könnte der Anfang einer Tragödie sein, doch Divry macht daraus eine Tragikomödie. Denn sie spielt nicht nur mit Worten, die sie zu kleinen Kunstwerken arrangiert, sie mixt barocke Bilder und vulgäre Internetsprache, formuliert Listen von Dingen, die sie sich nicht leisten kann und führt nicht nur einen Sex-Maniac als Freund, sondern gar noch einen teuflischen Einpeitscher ein. Der Hunger diktiert den Alltag Mancher Leser könnte sich ob all der gelehrten Anspielungen und Spielereien überfordert fühlen oder auch gelangweilt ob all der Wiederholungen und Auflistungen….

Der Selbstverbrenner
Rezensionen / 27. September 2017

Das „Opfer“ ist (fast) vergessen wie der Mensch auch. Doch im Internet findet sich noch so einiges über Hartmut Gründler, der sich 1977 aus Protest gegen die Atompolitik der Bundesregierung selbst angezündet hat. Jetzt hat es der unerbittliche Selbstverbrenner sogar in ein Buch geschafft. Der preisgekrönte Autor Nicol Ljubic erzählt in „Ein Mensch brennt“ Gründlers Geschichte aus der Sicht des zehnjährigen Hanno Kelsterberg. Hartmut Gründler opfert die Menschlichkeit der Sache 1975 vermieten Hannos Eltern Gründler ein Zimmer. Es sind bewegte Zeiten: Die RAF beherrscht die Schlagzeilen, doch auch friedensbewegte Menschen gehen auf die Straße und protestieren gegen die Kernkraft. Einer von ihnen ist Hartmut Gründler. Doch er ist anders als die anderen Demonstranten, kämpferischer, unbequemer, ein Rebell und ein Fanatiker, der nur sich und seine Sache sieht und verlernt hat, was Menschlichkeit ist. So jedenfalls lässt Ljubic den kleinen Hanno den neuen Mieter erleben. Der Rebell instrumentalisiert die Familie Gründlers Engagement verändert die kleine Familie: Hannos Mutter kommt durch ihn mit dem Umweltschutz in Berührung und beginnt an der Sinnhaftigkeit ihres Hausfrauen-Daseins zu zweifeln. Das Kind Hanno wird hineingezogen in diesen revolutionären Strudel. Denn Gründler instrumentalisiert Mutter und Sohn für seine Rebellion. Das erkennt Hanno gut 30 Jahre später, als…

Ulla Hahn: Lyrikerin im Klassenkampf
Rezensionen / 16. September 2017

Irgendwie ist sie doch stolz darauf, „dat Kenk von nem Prolete“ zu sein und es trotzdem so weit gebracht zu haben, dass sie sich heute als Frau von Klaus von Dohnany, dem elder Statesman, in Hamburgs bester Gesellschaft bewegt. Ulla Hahn, längst als Lyrikerin etabliert, lässt die Leser in ihrer nun auf vier Bände angewachsenen und nur leicht fiktiv verfremdeten Rückschau Teil haben an ihrer Entwicklung. Nach dem großartigen ersten Band „Das verborgene Wort“, nach „Aufbruch“ und dem weniger überzeugenden „Spiel der Zeit“ schließt sie die eigene Selbstbefragung nun mit dem schwer gewichtigen „Wir werden erwartet“ ab und konfrontiert sich selbst und die Leser mit den Irrungen und Wirrungen einer politisch fehlgeleiteten Jugend. „Meine Lernbegier, mein Lesehunger, mein Bildungsdurst waren von Anfang an auch von Aufsässigkeit und Angriffslust gespeist, geboren aus einer Haltung, es Denendaoben zu zeigen. Ihre Villen und Fabriken konnte ich mir nicht aneignen, wohl aber die ganz Fülle ihrer künstlerischen und gedanklichen Reichtümer, die sie, die Besitzenden, den Unterdrückten vorenthielten.“ Hilla Palm, Hahns Alter Ego, das begabte Arbeiterkind, das sich das Recht auf Bildung gegen den aufbrausenden Vater und die fast missgünstige Mutter erstritten hat, das aus der katholischen Enge aus- und aufgebrochen ist in die weite…

Im Schatten der Berge
Rezensionen / 21. August 2017

Man spürt von der ersten Zeile an, dass dieser Autor weiß, worüber er schreibt. Paolo Cognetti, in Mailand geboren, verbringt die Sommermonate immer in seiner Hütte im Aostatal, und er liebt New York. Doch im Roman „Acht Berge“ geht es ihm nicht nur um die Bergwelt, sondern vor allem auch darum, was die Berge mit den Menschen machen. Die Landschaft prägt den Charakter der handelnden Figuren, und Cognettis Naturbeschreibungen sagen auch viel aus über ihre Persönlichkeit. Die Berge werden zum Spiegel ihrer Gefühle. Zwei Freunde und ihre gegensätzliches Leben „Acht Berge“ erzählt von der Männerfreundschaft zwischen dem Mailänder Pietro und dem Bergbauernbuben Bruno. Während Pietro studiert und die Welt bereist, während er in Nepal nach den Bergen seiner Heimat sucht, bleibt Bruno da, wo er geboren und aufgewachsen ist. Und während Pietro sich auf keine feste Beziehung einlassen will, versucht Bruno mit Pietros Ex-Freundin Lara eine Existenz in den Bergen aufzubauen, nachhaltig und in der Tradition seiner Väter. Die Träume scheitern an der Realität Beide hängen ihren Träumen nach, wohl wissend, dass sie an der Realität scheitern müssen. So wie Pietros Vater, der sich einen anderen Sohn erträumt hatte, einen wie Bruno. Und der Pietro eine Ruine in den Bergen…

Eine Kreuzfahrt, die ist lustig
Rezensionen / 21. August 2017

Eines gleich vorneweg. Für Kreuzfahrtfans ist dieses Buch eher nicht geeignet. Denn was der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2016, Bodo Kirchhoff, unter dem Titel „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ auf 130 Seiten anspricht, könnte ihre Begeisterung für diese Art des Reisens schmälern. Denn Kirchhoff begnügt sich nicht damit, mit manchmal nervender Selbstgefälligkeit die eigenen Befindlichkeiten angesichts der Zumutungen im kleingedruckten Anhang der Einladung zu analysieren. Er schreckt auch nicht davor zurück, die Probleme anzusprechen, mit denen nachdenkliche Kreuzfahrer sich konfrontiert sehen: Die Bagatelllöhne, mit denen die Kreuzfahrtreedereien ihre Bediensteten abspeisen, die Quasi-Steuerfreiheit unter Billig-Flaggen, die Massenveranstaltungen an Bord und an Land und womöglich ein Todesfall auf dem Schiff, die obligatorische Rettung von Flüchtlingen… Der Schriftsteller als Edutainer  Fast schon genüsslich geht der Autor mit den Unterhaltungsangeboten ins Gericht, neben denen sich die Lesung eines Schriftstellers behaupten müsste. Und dass er als „Edutainer“ fungieren soll, also gleichzeitig als Unterhalter wie als Erzieher, erscheint ihm ebenso absurd wie mögliche Bauchplantschwettbewerbe. Die Antwort kann also nur ein „Nein“ sein, so sehr den (fiktiven) Autor die Vollmond-Nächte auf dem Meer gereizt hätten. Denn wozu noch ein Schiff besteigen, das im Kreis fährt, wenn unser Leben an sich schon eine sinnlose Reise ist? Die Absurditäten…