Das Geheimnis von Hyde
Rezensionen / 25. August 2018

Antje Wagner ist eine versierte Autorin, bekannt für ihre eher mystischen aber auch literarisch anspruchsvollen Jugendbücher. Mit ihrem neuen Roman „Hyde“, den sie als Zwitter zwischen Jugend- und Erwachsenenbuch konzipiert hat, mutet sie den Lesern ziemlich viel Gedankenarbeit zu. Denn auch nachdem man den letzten Satz gelesen hat, bleibt eine Unsicherheit zurück, wie das Ende wohl zu interpretieren ist. Ein Traum? Ein Happy End? Ein rätselhaftes Mädchen Geheimnisvoll wie die ganze Geschichte bleibt auch Katrina, das Mädchen, das hier seine Geschichte erzählt. Die 18-Jährige hat eine Ausbildung zur Tischlerin abgeschlossen und ist auf der Walz. Wie sie aussieht, erfährt man nicht. Nur, dass sie ständig ein Tuch im Gesicht trägt und dass Menschen, die sie ohne dieses Tuch sehen, entsetzt sind. Und früh spürt man, dass Katrina Schlimmes erlebt hat. Was das war, das lässt Antje Wagner die Leser erst nur ahnen. Man liest, dass Katrina einmal glücklich war. Damals als sie mit Papa und ihrer Schwester Zoe in Hyde lebte, dem Haus im Wald. Dem Haus, das zwei Gesichter hatte wie Stevensons Klassiker „Dr Jekyll und Mr. Hyde“. Auch über diese zwei Gesichter erfahren die Leser nur ganz allmählich Näheres. Ein altes Haus und neues Leben Was man weiß…

Flucht ins Ungewisse
Rezensionen / 10. August 2018

Es ist Anne Tylers 22. Roman und auch in „Launen der Zeit“ spricht die mittlerweile 76-jährige Chronistin des amerikanischen Mittelstands aus jeder Zeile. Wieder einmal geht es um schwierige Familienverhältnisse und die Flucht daraus. Schuldgefühle seit der Kindheit Das Leben der Hauptfigur Willa Drake erzählt Tyler in vier Episoden, die sie zwischen 1967 – da ist Willa elf – und 2017 ansiedelt. Willa ist nett und unauffällig, hilfsbereit und voller Schuldgefühle. Die hat sie seit ihrer Kindheit, die geprägt war durch die häufige Abwesenheit der Mutter und die Unzulänglichkeit des allzu sanftmütigen Vaters. Ein alltägliches Leben Derek, der Ehemann ist ganz anders, ein Machotyp, der Willa dominiert. Sie bricht ihr Studium ab, zieht nach Kalifornien und wird Mutter zweier Söhne. Ein ganz und gar alltägliches Leben, bis Derek durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird und Willa mit einem neuen Schuldkomplex zurücklässt. Auch dem zweiten Ehemann, Peter, fällt es leicht, diese von Selbstzweifeln geplagte Frau zu dominieren. In einer Golfsiedlung in Tuscon Arizona wird der Lebensabend geplant, auch wenn Willa nicht golfen kann, weil sie einfach unsportlich ist. Flucht aus dem Golf-Getto Doch dann tut sich per Zufall ein Hintertürchen auf, das dieser unterschätzten Hausfrau die Flucht aus dem…

Frauenschicksal in Saudi Arabien
Rezensionen / 10. August 2018

Dass Frauen an Steuer dürfen, ist wohl nur in Saudi-Arabien eine Schlagzeile wert. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman weckt mit seinen Plänen für eine offenere Gesellschaft Hoffnungen auf Tauwetter in dem erzkonservativen Land. Kholoud Bariedah, die 2012 ihrem Heimatland den Rücken kehrte, heute in Berlin lebt und sich vom Islam abwandte, hat die rigiden Disziplinierungsmethoden des Regimes am eigenen Leib erfahren. In ihrem Buch „Keine Tränen für Allah“ schildert sie, „wie ich von Tugendwächtern verurteilt wurde und dem Frauengefängnis von Mekka entkam“. Wenn Tugendwächter eine Party stürmen Es ist ein ehrlicher, wenn auch manchmal etwas larmoyanter Bericht aus einem Land, in dem Frauen rechtlos sind und Tugendwächter das Leben bestimmen. Als Kholoud die ganze Härte des Regimes zu spüren bekommt, ist sie gerade mal 20 Jahre alt und feiert mit Freunden eine Party, die von Tugendwächtern gestürmt wird. Wie ihre Freunde landet Kholoud hinter Gittern, einer Besserungsanstalt für gefallene Mädchen. Vier Jahre Haft und 2000 Stockschläge Sie wird verurteilt: Zu vier Jahren Haft und 2000 Stockschlägen. Für etwas, was in anderen Ländern für junge Leute selbstverständlich ist, fröhlich sein, tanzen, feiern landet sie zunächst in Einzelhaft, darf weder Vater noch Mutter sehen und zerbricht fast daran: „Jeden Tag stellte…

Gratwanderung zwischen den Welten
Rezensionen / 16. Juli 2018

Die Helden sind meist gewöhnlich, doch das, was um sie herum geschieht, ist außergewöhnlich. Das gilt auch für Haruki Murakamis „Die Ermordung des Commendatore“, vom Verlag in zwei Teilen herausgegeben. Nach „Eine Idee erscheint“ heißt es im zweiten Teil „Eine Metapher wandelt sich“ – und dieser zweite Teil fordert den Lesern noch mehr Bereitschaft ab, dem Dichter in eine Welt zu folgen, in der sich Realität und Fantasie mischen. Wären sie nicht vom ersten Teil her schon gut vorbereitet darauf, dass sich Fantasiewesen materialisieren, dass die Realität auch der Magie Platz lässt, der zweite Teil würde sie überfordern. Abenteuer zwischen Traum und Wirklichkeit   Doch Murakami hat den Boden sorgfältig bereitet: Der Commendatore, entwichen aus dem Gemälde zur Mozart-Oper „Don Giovanni“, diskutiert ganz real mit dem neuen Hausbewohner. Ein Freund, Sohn eines bekannten Malers, hatte dem in einer Ehekrise steckenden Berufsporträtisten das Haus seines Vaters als Zuflucht angeboten. Eben da findet der 36-jährige Gast das versteckte Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“, und er lernt einen Milliarden schweren und rätselhaften Nachbarn kennen, den Steigbügelhalter zu all den kommenden Abenteuern zwischen Traum und Wirklichkeit. Man spürt schon den Einfluss Kafkas in den rätselhaften Passagen, die zwischen den Welten changieren. Die Philosophie der Dona…

Leben in der Geschichte
Rezensionen / 16. Juli 2018

Eine jüdische Familie in New York. Die alt gewordene Bella erinnert sich an ihre Jugend in Berlin – und an die Rettung ihrer Familie durch einen ägyptischen Arzt. Sie hat die Geschichte schon viele Male erzählt, doch kaum jemand aus ihrer zahlreichen Nachkommenschaft interessiert sich mehr dafür. Die Jungen haben andere Probleme: Der schwarze Schwiegersohn Nigel, Sohn eines Afroamerikaners und einer Deutschen, deren Vater ein hohes Tier bei den Nazis war, weiß, dass seine Frau Louise ihn betrügt. Die kleine Tochter Chelsey hat das Down-Syndrom und ist doch der Liebling aller. Die zweite Tochter Grace hat in einen irischen Clan eingeheiratet, zu dem Bella nur schwer Zugang findet. Dabei gäbe es doch die ganze Großfamilie nicht, wenn „es damals in Berlin Dr. Fareed nicht gegeben hätte“. Die Last der Vergangenheit An Bellas Geburtstag wird dieser Satz gebetsmühlenartig wiederholt – mit mehr oder weniger Überzeugung. „Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbrächte, meine Erinnerungen ein für alle Mal irgendwo zu verschließen,“ sagt die alte Frau zu einem der Iren. „Euch gegenüber wäre es eigentlich nur fair und richtig. Ihr tragt die Last der Vergangenheit mit. Ich gehe euch damit auf die Nerven.“ Jürgen Seidel erzählt die auf einem wahren Schicksal…

Morgen Augsburg!
Rezensionen / 16. Juli 2018

Er galt als Nestbeschmutzer, als schwieriger Zeitgenosse: Thomas Bernhard machte es seinen Feinden leicht, ihn zu hassen. Denn der in Holland geborene und in Österreich aufgewachsene Dichter liebte es zu polemisieren. Kaum ein Land, kaum eine Stadt fand Gnade vor seinen kritischen Augen. Sie waren für ihn allesamt hässlich, ob Rom oder Stockholm, Passau oder Salzburg, Freiburg oder Linz, Paris oder Wien: Brutstätten des Kleinbürgertums, Horte der Dummheit und Ignoranz, widerwärtige Provinznester. Die Lechkloake ist in bester Gesellschaft  Augsburg, das sich in dem Stück „Die Macht der Gewohnheit“ als „Lechkloake“ verunglimpft sah, ist in bester Gesellschaft. Denn für Bernhard, den österreichischen Nationaldichter, ist ganz Österreich eine Kloake. Und der Schlachtruf „Morgen Augsburg“ findet seine Steigerung in „Nie wieder Trier“. Gut drei Stunden lang kann man sich die „Städtebeschimpfungen“ des großen Grantlers anhören. Gelesen von Peter Simonischek und Michael König, ist das ein ganz besonderes Reise-Erlebnis. Die Hasstiraden treffen fast alle Städte Denn so manche Städteschönheit wird bei Bernhard zur Brutstätte von „Menschengerümpel“, hässlich und öde. Gelten lässt er gerade noch Kopenhagen. Auch Hamburg mag er und Lissabon. Dafür hasst er die Schweiz, überhaupt die ganze Natur, langweilt sich am Genfer See und findet Bad Gastein tödlich. Es sind bitterböse Tiraden,…

Der Po – von der Quelle bis zur Mündung
Rezensionen / 16. Juli 2018

„Das Schöne ist, über den Fluss zu fahren, ohne eine Spur zu hinterlassen, außer Erinnerungen und Wissen.“ Was der Freund am Ende dieser außergewöhnlichen Reise sagt, hat Paolo Rumiz von Anfang an vorgehabt. In dem Buch „Die Seele des Flusses“ schildert der italienische Autor, wie er zusammen mit wechselnden Freunden auf dem Po durch ein unbekanntes Italien gereist ist. Zunächst im Kanu, später mit einem Segelboot – auch mit Motor. Der Horror neben der Schönheit  Was die Freunde dabei gesehen und erlebt haben, war nicht immer schön, und doch war diese Reise für alle „ein großartiges Abenteuer“. 700 Kilometer haben sie auf dem Fluss bewältigt, auch die Verästelungen des Deltas. Sie haben sich nie gelangweilt aber hin und wieder geärgert über die Zumutungen der Menschen an den Fluss. Sie haben gesehen, „dass der Horror oft neben der Schönheit wohnt“ wie beim – abgeschalteten – Atomkraftwerk Trino, und sie sind der Seele des Flusses näher gekommen. Manchmal, notiert Rumiz, waren sie mit ihrem Boot weit weg von der Zivilisation wie sonst vielleicht nur auf dem Mekong oder auf dem Mississippi. Geschichten aus dem Fluss Und immer wieder fischt der Schriftsteller Geschichten aus dem Fluss, die er literarisch verarbeitet. Man folgt ihm…

Großvater in Gefahr
Rezensionen / 16. Juni 2018

Mörderisch geht es im Allgäu zu, seit Kult-Kommissar Kluftinger in der eher für ihre Berge und Schlösser berühmten Region ermittelt. Und das ist durchaus nicht nur ein Zeichen unserer Zeit, denn schon viel früher – zum Karrierebeginn des Kommissars – gab es dort Mord und Totschlag. So nachzulesen in „Kluftinger“, dem neuesten Titel des erfolgsverwöhnten Autorenduos Klüpfel und Kobr, der wieder einmal ganz oben in der Spiegel-Bestsellerliste steht. Zurück in Kluftingers Vergangenheit Und ganz sicher erfüllt der Wälzer auch die Erwartungen der Kluftinger-Fans. Denn er gewährt ihnen tiefe Einblicke in Kluftingers Vergangenheit bis hinein in seine – langhaarige – Jugend. Da freilich war der Polizistensohn aus dem Örtchen Altusried ein allzu braver Mitläufer in einer eher wilden Clique. Später dann ist er mit seinem Scharfsinn und seiner Kombinationsgabe aufgefallen und hat als „Kriminaler“ Karriere gemacht. Auch, weil er in einem brutalen Mord durch seine Verhörmethoden einen Mann als Täter überführt hat. Ein Nachruf auf den Kommissar Diese Geschichte und eine „Jugendsünde“ holen ihn jetzt wieder ein. Jemand scheint dem Großvater nach dem Leben zu trachten – auf ziemlich perfide Weise. In der Lokalzeitung erscheint ein Nachruf auf ihn, auf dem Friedhof steht sein Name auf einem Holzkreuz und Kluftinger-Sterbebildchen liegen…

Brunetti resigniert
Rezensionen / 18. Mai 2018

Bei Donna Leon rechnet man schon lange nicht mehr mit einem deftigen Krimi. Auch Brunettis 27. Fall macht da keine Ausnahme. Ja, es kommt ein Opfer vor. Aber lange wissen weder Brunetti noch die Leser wie der harmlose Buchhalter zu Fall gekommen ist. Der neue Fall reicht bis ins Privatleben Viel mehr Raum als die Ermittlungen in diesem Fall, der noch dazu das Privatleben des Commissario berührt, weil die Frau des Opfers mit Brunettis Ehefrau Paola befreundet ist, interessieren in diesem Buch der Alltag im von Touristen überrannten Venedig, das erstaunlich stabile Privatleben der Brunettis, die Intrigen rund um den Vize-Questore Patta, die Widersprüche in der Gesellschaft oder auch die Rolle der ebenso attraktiven wie rätselhaften Signorina Elettra, deren Schönheit nur vergleichbar ist mir der von Claudia Griffoni, der temperamentvollen Neapolitanerin. Beide Damen übrigens Brunetti herzlich zugetan. Wer versucht hier wen? So könnte der Titel „Heimliche Versuchung“ auch auf mögliche Techtelmechtel des Familienvaters mit einer der beiden Schönheiten hinweisen. Da legt Donna Leon gekonnt eine Fährte, die in die Irre führt. Eigentlich es geht um ganz andere Dinge, oberflächlich banale Unregelmäßigkeiten, die dem Staat viel Geld kosten. Wie entscheidet sich der Staatsdiener Brunetti? Für die Menschlichkeit oder für die Staatstreue?…