Mit seinem Roman „Das kalte Blut“ hat der deutsche Filmemacher mit baltischen Wurzeln Chris Kraus der Literaturwelt einen schwer verdaulichen Brocken Vergangenheitsbewältigung hingeworfen. Eine furiose, wütende Abrechnung mit der deutschen (und der baltischen) Geschichte, die nach Kraus‘ Meinung noch lange nicht abgeschlossen ist. Nun legt er mit „Sommerfrauen, Winterfrauen“ nach. Doch so richtig funktioniert es diesmal nicht. Als Liebes- und Künstlerroman getarnt Zwar spielt diese als Liebes- und Künstlerroman getarnte Geschichte in den 1990er Jahren in New York und ermöglicht die absurdesten Begegnungen in der von der eigenen Vergangenheit trunkenen Szene: „Ich merke: New York manifestiert sich für mich in diesem gefräßigen, milchsaufenden Gargantua, dieser zypklopischen Extunte, mit der ich eine Ruine von Wohnung teile und die all die Schmerzen, all den Wahnsinn, alle Möglichkeiten dieser Stadt verkörpert.“ Zwar philosophiert Kraus‘ Protagonist, der zwischen seiner vietnamesischen Freundin Mah und der quirligen Goethe-Institut-Praktikantin Nele hin und her gerissene Jonas Rosen, über Winterfrauen („Sie wohnt in ewigem Permafrost… Verantwortungsvoll und groß ist sie im Schmieden von kleinen Plänen. Zuverlässig.“) und Sommerfrauen („Sie war gleichzeitig extrem zurückhaltend und völlig ohne Schüchternheit. Ein Rätsel.“). Rosa von Praunheim lässt grüßen Aber auch hier drängt sich eine Episode aus dem Dritten Reich ins Zentrum: Rosen, von…
„Der Strand hatte sich inzwischen gefüllt. Bald würden wir wieder nach Hause fahren, müde vom frühen Aufstehen, von der Sonne, dem Meer. Der schönsten und sattesten Müdigkeit, die es gab. Noch Sand zwischen den Zehen und in den Haaren, Salz auf der Haut, quetschten wir uns alle wieder ins Auto, die Autotüren schlugen zu, und wir fuhren von der jetzt voll geparkten Koppel, als wäre alles ein Super-8-Film, den man rückwärts laufen ließ.“ Der Rückwärtslauf war besser als Dick und Doof Nein, ein Super-8-Film war das Leben im ländlichen Schallerup, das Anne Müller in ihrem Debüt „Sommer in Super 8“ beschreibt, trotz solcher Erinnerungen nicht. Es sind die 1970er Jahre, die ersten Menschen landen auf dem Mond, die Kinder tragen im Sommer kurze Hosen, die Sängerin Alexandra stirbt bei einem Unfall und der Vater, ein Landarzt, filmt seine Familie in Super-8. Bei den Filmvorführungen im kleinen Kreis ist der Rückwärtslauf immer das Highlight, besser als Dick und Doof. Der Vater liebt die Augsburger Puppenkiste – und den Alkohol. Bullerbü ist in Schallerup nur Fassade Bullerbü ist in Schallerup nur Fassade, dahinter verbirgt sich eine Lebenslüge mit dramatischen Folgen. Auch die Welt draußen ist nicht heil: Das Olympia-Attentat, bei dem elf…
Ein altes Herrenhaus irgendwo im Nirgendwo in Schottland, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Oder besser die Pfauen, die der Lord mal angeschafft hat und die sich vermehrt haben. Eine Gruppe Banker, die sich zum Teambuilding eingemietet hat und überrascht ist über den mangelnden Komfort in dem riesigen Anwesen, das sich nur schlecht beheizen lässt. Die toughe Chefin des Ganzen hat Köchin und Psychologin mitgebracht. Nichts soll schief gehen – und doch läuft nichts wie geplant. Der verrückte Pfau bringt alles durcheinander Das liegt nicht nur an dem verrückten Pfau, der alles attackiert, was blau ist, sondern auch an den tierischen Bewohnern und am Wetter. Es ist mitten im Winter, die Banker werden eingeschneit, die Chefin holt sich eine Grippe. Schlechteste Aussichten also für Teambuilding. Dass die Gruppe dennoch zusammenwächst, hat mit den widrigen Umständen ebenso zu tun wie mit der romantischen Umgebung und den Künsten der Köchin. Beste Agatha-Christie-Manier Isabel Bogdan kennt sich aus in den schottischen Highlands und mit der Mentalität der Lords und Ladys. Ihr Roman ist ein lustiges Hütchenspiel im Herrenhaus in bester Agatha-Christie-Manier. Denn alle wissen etwas, was die anderen nicht wissen, und das führt zu den absurdesten Verwirrungen: „Und so verging der…
Er ist viel gereist in seinem Leben, war mit Bus und Zug unterwegs, mit dem Flugzeug und zu Fuß, hat Reportagen über seine Reisen geschrieben und war Mitbegründer einer Reisezeitschrift. Für den schwedischen Reiseschriftsteller Per J. Andersson ist Reisen „die wirkungsvollste Methode, das eigene Bild von der Welt zu erweitern“. Und darüber schreibt er auch in seinem Buch, das reich ist an Zitaten und kleinen Geschichten und das den Leser mitnimmt ins pralle Leben etwa nach Indien, wo der Autor immer wieder gerne ist. Gedanken über den Sinn des Reisens Andersson ist ein gebildeter Reisender, einer, der viel gelesen hat über das Reisen und die Welt und der sich Gedanken gemacht hat über den Sinn des Reisens und über die Geschichte des Unterwegsseins – von den Nomaden der Frühzeit über die Roma und die Landstreicher bis zu den Tramps und Hippies. Wie andere Zeitgenossen auch ist er zwar immer wieder als Rucksackreisender unterwegs – aber mit Netz und doppeltem Boden, also mit der Gewissheit, zurückkehren zu können in einen gesicherten Alltag. Das unterscheidet den „Freizeitvagabunden“ von jenen, die aus Armut oder Verzweiflung auf der Straße leben. Trampen als Zivilisationskritik Trotzdem kennt auch er, „das leise brodelnde Glücksgefühl, (fast) pleite und…
Die Wetterextreme nehmen zu: Mehr Stürme, mehr Gewitter, heiße Sommer, eiskalte Winter, Hagel. Beste Aussichten für „Sturmjäger“. So nennen sich Menschen, die mit ihrer Kamera den Wetterphänomenen auf der Spur sind. Bastian Werner ist so ein „Sturmjäger“, und der gleichnamige Bildband zeigt eindrucksvoll, wie erfolgreich der 25-Jährige dabei ist. Blitzlichtgewitter und Regenbogen Die Kamera hat Wolken, Wind und Regen buchstäblich aufgesaugt, die großformatigen Fotos ziehen den Betrachter hinein in Wolkenberge und Gewitterstürme, lassen ihn wahre Blitzlichtgewitter erleben oder über einen märchenhaften Regenbogen staunen. Bastian Werner hat sich immer viel Zeit genommen, um diese grandiosen Wetterphänomene einzufangen, hat oft Tage und Nächte vergeblich gewartet und dann doch erlebt, dass sich auch eine lange Anreise und eine noch längere Wartezeit gelohnt haben. „All diese Zeit ist es wert“, ist er überzeugt, „wenn man weiß, man ist vielleicht der einzige Mensch, der die Wolken um drei Uhr morgens am Nachthimmel bewundert“. Die Schönheit der Wolken Blättert man durch die Seiten dieses außergewöhnlichen Bildbandes, der einer Gliederung nach Jahreszeiten folgt, dann bleiben die Augen immer wieder hängen an den ungewöhnlichen Farben der Wolken, an ihren fantastischen Formen, an ihrer Wucht. „Dieses Buch…freut sich einfach, dass die Wolken da sind – wunderschön, spannend, atemberaubend wie…
Im Nachwort erzählt Isabel Allende, dass die Idee zu ihrem Roman „Ein unvergänglicher Sommer“ in einer kleinen Runde an Weihnachten entstanden ist, weil sie seit 35 Jahren immer am 8. Januar zu schreiben begonnen habe. So wurden Ideen in die Runde geworfen. Daraus entstand das Gerüst des Romans, in den sie auch ihre eigene Liebesgeschichte einbaute. Neue Lust am Fabulieren So richtig neu ist nichts in diesem Buch, vieles kennt man aus früheren Romanen der chilenischen Autorin. Und doch hat man das Gefühl, dass Allende wieder neue Lust am Zusammenspinnen von Realität und Magie gewonnen und in manchen Schilderungen zu ihrer alten Fabulierkraft zurückgefunden hat. Nur schade, dass vor allem der zweite Teil derart überzuckert ist, dass er die Eindrücke des ersten Teils, in dem auch von Flüchtlingen, Terror und Folter die Rede ist, fast vergessen macht. Da hat sich die 75-jährige Autorin wohl zu sehr von der Erfahrung der eigenen späten Liebe beeinflussen lassen. Trio mit Leiche Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein einem Schneesturm in New York geschuldeter Auffahrunfall bringt drei Menschen (und ihre Schicksale) zusammen. Die junge, zarte Evelyn, Kindermädchen bei einer reichen Familie, wollte mit dem Auto ihres zwielichtigen Arbeitgebers Windeln für ihren Schützling kaufen –…
„Also: Der Thalamus ist eine Art Schaltzentrale. Zum Beispiel leitet er das, was das Auge sieht, zur Großhirnrinde weiter. Aber er filtert es auch, er checkt ab, welche Eindrücke gerade wichtig sind, und die werden dann bis ins Bewusstsein vorgelassen. So ungefähr funktioniert das auch mit Hören, Schmecken, Fühlen – bloß beim Riechen mischt er sich nicht groß ein.“ So erklärt der Hirnchirurg Prof. Kleist den Teil des Zwischenhirns. Wer steuert wen? Thalamus ist auch der Titel des neuen Thrillers von Ursula Poznanski – und wie gewohnt wagt sich die Autorin an ein ebenso aktuelles wie sensibles Thema. Diesmal ist es die Hirnforschung. Der Thalamus gilt als das Tor zum Bewusstsein. Wer darauf Einfluss nimmt, könnte den Menschen steuern. Protagonist ist der 17-jährige Timo, der bei einem Mopedunfall schwer verletzt wurde. Operiert hat ihn der renommierte Professor Kleist, der ihm auch den Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung empfohlen hat. Was Timo da erlebt, gehört (noch) ins Reich der Utopie oder auch der Dystopie, je nachdem, wie wichtig man die menschliche Autonomie nimmt. Ein unerwarteter Mitstreiter Jedenfalls trifft Timo in der idyllisch gelegenen Anlage auf einige Jugendliche in seinem Alter, die ebenfalls am Gehirn operiert wurden. Ob sie ähnliche Symptome haben wie…
Wie ist es wohl, wenn das Kurzzeitgedächtnis ausfällt, wenn das Gehirn nur mehr alte Erinnerungen konserviert? Neurowissenschaftler untersuchen solche Fälle. Und Elihu Hoopes ist so ein Fall. Ein Mann im besten Alter (37), charmant, weltgewandt, intelligent. Nur: Hoopes hat durch einen Unfall eine Gehirnschädigung erlitten, er kann sich an nichts erinnern, was länger als 70 Sekunden zurückliegt. Die junge Neurowissenschaftlerin Margot Sharpe ist von ihrem Mentor, dem allseits anerkannten Prof. Milton Ferris mit dem Fall E.H. betraut worden. Eine Gefühl von Liebe Und die eher unscheinbare und schüchterne Frau, die Ferris auch zu seiner Geliebten gemacht und später wieder entsorgt hatte, wirft sich mit Elan auf den Fall. Zumal sie das Gefühl hat, dass E.H. positiv auf sie reagiert: „Körperliche Schädigung ist der große Gleichmacher, denkt sie. Vor anderthalb Jahren, vor seine Erkrankung, hätte Elihu Hoopes bei ihr wohl kaum zweimal hingesehen. Fast möchte sie ihn beschützen, ihn bedauern, und spürt, dass er dankbar für ihre Berührung wäre.“ Margot, durch den eigenen Ehrgeiz vereinsamt, entwickelt nicht nur einen Beschützerinstinkt für den charismatischen Kranken, sie verliebt sich in den Mann, der ihr so ganz ausgeliefert ist. Und ja, sie hat Sex mit Eli, leidenschaftlichen Sex – den dieser nach 70 Sekunden…
Siebzig Jahre alt musste Bodo Kirchhoff werden, um sich literarisch mit dem Trauma der eigenen Kindheit auseinander zu setzen. Angeklungen ist die sexuelle Verführung des Kindes Bodo schon früher, doch erst im „Roman der frühen Jahre“ stellt er sich unter dem Titel „Dämmer und Aufruhr“ dem eigenen Lebensdrama. Und dabei spielt nicht nur der Missbrauch durch den Kantor im Internat am Bodensee eine zentrale Rolle, noch wichtiger für die Sexualisierung des Buben ist die junge (und schöne) Mutter. „Bilder von sprachloser Wahrheit“ Wie Kirchhoff die frühe Mutter-Sohn-Beziehung rückblickend beschreibt („Der Infant stillt seine Mutter“) ist einerseits irritierend, weil es den Leser ungewollt zum Voyeur macht, andererseits zeugt es von der literarischen Qualität dieses Erinnerungsbuches. So gibt es, wie Kirchhoff schreibt, „nur verwischte Erinnerungen, Bilder von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zum Wahrscheinlichen bilden. Ja, wahrscheinlich ist es so gewesen, alle Bilder sprechen dafür.“ Der Mittagsgalan und die Mutter Und die Bilder erzählen davon, dass der kleine Bodo für die Mutter, die Schauspielerin war und später Autorin von Liebesromanen wurde, weniger Kind als männlicher Begleiter war, „Sommerkavalier“. Und in den „Mittagsdämmerstunden“ des Urlaubs ohne den Vater kommt es zu Intimitäten, wobei sich der kleine „Mittagsgalan“ eines Bleistifts bedient,…
Überwältigende Natur kennt der Mensch von heute nur mehr, wenn er hinausgeht aus den Dörfern und Städten, hinauf auf die Berge, hinein in den Wald, wenn er dem Flusslauf folgt oder einem Pilgerweg. Doch das Erlebnis der Natur ist für viele Zivilisationsgeschädigte heilsam. Der Bildband „Mystische Orte in Südtirol“ lädt dazu ein, die Natur in ihrer Ursprünglichkeit neu zu entdecken und an Kultstätten, auf Pilgerpfaden oder auf einem Berg die eigene Mitte wieder zu finden. Mystische Nebel, geheimnisvolles Dunkel Der Fotograf Martin Ruepp hat dazu Kult- und Kraftplätze in Südtirol porträtiert, oft in mystische Nebel oder geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Die Musiktherapeutin Astrid Amico, die sich schon seit vielen Jahren mit Meditation befasst, beschreibt in ihren Texten solche Orte, berichtet von den Hintergründen, erzählt alte Sagen, schreibt über das Gedächtnis der Natur und die wieder entdeckte „Kunst der Geomantie“, die sich mit den Kräften der Erde befasst. Zitate von Rilke bis Blake Es ist schon ziemlich viel Esoterik im Spiel, etwa, wenn die Autorin davon erzählt, wie sie auf die Antwort eines Steins wartet. Aber immer wieder verlocken die geheimnisvollen Aufnahmen dazu, sich doch in die Texte zu vertiefen oder sich Gedanken zu machen über die Zitate von Rilke bis Proust,…