Seltsames Himmelfahrtskommando
Rezensionen / 18. November 2018

Michel Faber hat ein Wunder vollbracht: Er hat eine Utopie mit einer Liebesgeschichte verknüpft und daraus einen staunenswerten Roman gemacht. „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“ spielt irgendwann in einer Zukunft, in der es möglich sein wird, Millionen Lichtjahre zu reisen, ohne dabei zu altern. Denn nur so kann sich der Pastor Peter zum Planeten Oasis aufmachen, wo er die Ur-Einwohner missionieren soll. Seine geliebte Frau Beatrice muss er auf der Erde zurück lassen. Hungrig nach dem Neuen Testament Auf dem fernen Planeten erwartet den frommen Mann dann eine handfeste Überraschung: die Aliens müssen gar nicht mehr missioniert werden, sie sind hungrig nach dem Neuen Testament. Von diesem Buch der seltsamen neuen Dinge können sie gar nicht genug bekommen. Dass sie außerdem noch halbwegs Englisch sprechen, auch wenn sie Probleme mit den Konsonanten haben, macht es Peter noch leichter, den Zugang zu ihnen zu finden. Voller Enthusiasmus macht er sich mit seinen willigen Schülern an den Aufbau einer Kirche und versucht im stillen Kämmerlein, die Texte aus der Bibel so zu übertragen, dass seine Schäflein sie verstehen. Denn sie leben ja fern der Erde, kennen weder Schafe noch Hirten, weder Fische noch Wasser. Mails aus dem Jammertal Während Peter ganz in…

Mexiko unter dem Brennglas
Rezensionen / 4. November 2018

Nein, eine Wohlfühlausgabe von Mexiko ist Andreas Altmanns Buch „In Mexiko – Reise durch ein hitziges Land“ nicht. Das geht auch nicht, wenn der Autor Altmann heißt. Denn der Reporter wirft sich gerne mitten hinein in die Abgründe der Menschen und der Länder, die er bereist. Und in Mexiko fand Altmann viele Abgründe, die religiösen und die wirtschaftlichen, die kulturellen und die mörderischen. Das Buch geht unter die Haut Ein normales Reisebuch mit der Beschreibung touristischer Hotspots ist nichts für Altmann. Was er kann, ist: genau hinschauen auf das Leben anderer, hinter die Fassaden gucken und „Nähe zum Fremden“ herstellen, wie er im Vorwort schreibt. Es ist wieder mal ein echter Altmann geworden, ein Buch, das unter die Haut geht, denen, die schon mal in Mexiko waren und denen, die das Land nur aus Berichten und Filmen kennen. Altmann nimmt sie alle mit auf seine Reise per Bus, Taxi und Bahn durch ein anarchisches Land, in dem Morde an der Tagesordnung sind. Schwarzer Humor angesichts alltäglicher Gewalt Oft ist der Reporter schockiert von den täglichen Mord-Berichten und -Bildern, manchmal hilft ihm nur schwarzer Humor darüber weg: „Es gibt – entlang des hellen, makellosen Sands – Masssage-Liegen, mit weißen Planen überdacht….

Vom Verschwinden eines Dorfes
Rezensionen / 4. November 2018

Es ist ein starkes Debüt, das die 31-jährige Autorin Karoline Menge mit „Warten auf Schnee“ vorlegt. Zu Recht Bekommt sie dafür den mit 10 000 Euro dotierten „Ulla-Hahn-Autorenpreis“. Menge erzählt in ihrem ersten Roman die Geschichte einer zerbrochenen Familie mit märchenhaften Elementen und mit Anleihen bei Horror-Filmen. Alles löst sich auf Pauli ist 16 Jahre alt, als alles um sie herum sich aufzulösen scheint. Begonnen hat der Prozess allerdings schon früher, als ihr Vater von einem Tag auf den anderen verschwand. Dann kam Karine ins Haus, in dem Pauli fast schon symbiotisch mit ihrer Mutter lebte – und sie saugte am Leben der Mutter wie ein Vampir. Doch noch ist die Kindheit trotz aller Feindseligkeiten des Dorfes golden. Bis auch die Mutter verschwindet und die beiden Mädchen auf sich allein gestellt sind. Dann sind auch die 69 Bewohner des Dorfes fort, verschwunden, einer nach dem anderen. Das Dorf erlischt so wie auch das Licht in den Augen Karines erloschen ist. Nostalgische Erinnerungen an die Kindheit Pauli, bisher die Tatkräftige, wird von Urängsten heimgesucht, die sie mit nostalgischen Erinnerungen an ihre Kindheit zu vertreihen sucht. Es sind düstere Bilder, die Menge heraufbeschwört, Szenarien eines Untergangs. Wohin die Menschen verschwunden sind und…

Kieler Intrigenstadel
Rezensionen / 23. Oktober 2018

Sympathisch wird der Mann einem nie so recht. Dazu ist er viel sehr Snob. Parker mag‘s elegant, er schätzt Markenhemden und Seiden-Anzüge – auch aus zweiter Hand. Denn der Mann aus kleinen Verhältnissen hat zurzeit einen finanziellen Engpass. Auch deshalb ist er nach Kiel gekommen, um eines seiner Rhetorik-Seminare zu halten. Da ist der Rede-Profi auf sicherem Terrain, kann seine oft unbedarften Schüler beeindrucken.  Zum Beispiel mit einem Vortrag wie diesem: Die Lehre über Lügen „Lügen erkennt man im Gesicht. Das Zittern der Haut und die Augen, der konzentrierte Blick oder die angestrengte, gelassene Nichtfokussierung im Raum. Ein Mundzucken, ein Ausweichen. Selbst, wenn man über all die Jahre die Lüge geglaubt hat, die man sich und anderen erzählt. Parker wartete einen Moment lang. Dann sah er sie alle der Reihe nach an. Er spürte, wie ihnen plötzlich hinter ihren scheinbar so sicheren Schlipsen und Hemdkragen, teuren Frisuren, all diesen Fassaden des Erfolgs, mulmig wurde. Sie fühlten sich angesprochen.“ Ein Neuanfang in Kiel Immerhin hat er einiges zu bieten, war als Coach zwischen New-York und Shanghai unterwegs, hat Manager und Diplomaten beraten und sogar bei Obamas Wahlkampf als kleines Rädchen mitgewirkt. Natürlich hat er auch ein Buch geschrieben – über modernes…

Verlorene Paradiese
Rezensionen / 23. Oktober 2018

Markus Mauthe ist nicht nur ein engagierter Naturfotograf, sondern auch ein leidenschaftlicher Naturschützer. Mehr als drei Jahre war er für sein neues Projekt in den entlegensten Gebieten unterwegs und hat Menschen besucht, die an den Rändern unserer westlich geprägten Welt leben und „sich den Spielregeln der Moderne so weit wie möglich widersetzen“, wie Florens Eckert im Vorwort schreibt. 22 indigene Volksgruppen hat Mauthe porträtiert – in Tropenwäldern, Gebirgen, Wüsten, auf dem Ozean und im eisigen Norden. Aufschrei gegen die Ausbeutung Sein Buch ist ein Aufschrei gegen die Ausbeutung, „die inzwischen in die letzten Ecke der Erde reicht“. Mit seinen großartigen Porträts will er die Geschichten der Betroffenen erzählen, denen eine Stimme geben, deren Lebensräume mit bestürzender Hochgeschwindigkeit schwinden. Er war bei den kriegerischen Suri im Südsudan. Bei den christlichen Chin in Myanmar, deren Frauen sich die Gesichter tätowieren. Er hat die Awa am Amazonas fotografiert und dabei das Gefühl gehabt, „sowohl deren letztes Kapitel zu erleben als auch tief in ihre Vergangenheit zu blicken“. Er war bei den Himba und den San in Namibia, deren Kinder sich schämen, einer minderwertigen Kultur anzugehören. Der Alltag als Touristen-Spektakel Er hat das Omo-Tal durchstreift, wo die Touristen einzigartige Erlebnisse erwarten und mit dazu…

Dunkle Abgründe auf Lanzarote
Rezensionen / 23. Oktober 2018

Es ist ein schmales Buch. Juli Zehs „Neujahr“ entführt die Leser nach Lanzarote, wobei der Vulkaninsel mit ihren schwarzen Stränden eine Art Doppel-Rolle zukommt. Denn Henning, der mit Frau und zwei Kindern, auf Lanzarote Weihnachten und Silvester verbringt, war schon einmal da – als kleiner Junge. Was damals geschah, war so schrecklich, dass er es verdrängt hatte. Doch nach dem Silvesterabend, bei dem seine Frau Theresa ausgiebig mit einem anderen Gast flirtet, startet Henning zu einer Radtour in die Berge und fordert sich dabei bis zur völligen Erschöpfung. Vielleicht liegt es daran, dass längst Verschüttetes an die Oberfläche drängt. Die Überforderung des modernen Vaters Bis dahin haben die Leser relativ wenig über Henning und seine Familie erfahren: Ein bürgerliches Paar wie viele, das sich die Erziehung der Kinder teilt und gerne vom Home Office aus arbeitet. Kleine Streitereien zwischendurch, nichts Ernstes. Nur, dass Henning immer wieder von Panikattacken heimgesucht wird. Womöglich als Folge von Überforderung. Denn Henning ist ein moderner Vater, einer, der sich einbringt – und trotzdem die Mutter nicht ersetzen kann. Über den Ehrgeiz, es allen recht zu machen, hat er die eigenen Wünsche aus dem Blick verloren. Jetzt, als er sich den Berg hinauf plagt, bricht es…

Paar-Therapie
Rezensionen / 4. Oktober 2018

„Mir ist aufgegangen, dass das alles miteinander zusammenhängt. Wenn man irgendwo einen Stein rausnimmt, fällt gleich alles in sich zusammen. Und dann muss man alles wiederaufbauen, nur diesmal anders.“ Charlotte und Steve haben sich auseinander gelebt, wollen aber ihre Ehe nicht ganz verloren geben und sind deshalb bei der Paar-Therapeutin Sandy. Der vierte Stuhl ist für die Ehe reserviert In dem Raum stehen allerdings nicht nur drei, sondern vier Stühle. Der vierte Stuhl ist für die Ehe reserviert, sagt Sandy. Ihre Methoden, die Ehe ihrer beiden Mandanten zu retten, sind eher unorthodox aber gerade deshalb interessant. John Jay Osborn hat seinen Roman „Liebe ist die beste Therapie“ wie ein Kammerspiel inszeniert. Die Leser sitzen quasi dabei und hören zu, wenn Steve von seinem Seitensprung erzählt und Charlotte den verständnisvollen Bill lobt, der ihr eine große Stütze war, als sie von Steves Untreue erfuhr. Wenn sie über die Zukunft der Kinder streiten und auch von neuen Versuchungen berichten. So als wäre man selbst in Therapie Die Therapeutin wirkt bei diesen Gesprächen wie ein Katalysator, ermöglicht harte Auseinandersetzungen und setzt sich dafür ein, dass sie fair bleiben. Für Charlotte und Steve sind die Sitzungen nicht immer einfach. Trotzdem kommen sie treu und…

Rätselhaftes Georgien
Rezensionen / 4. Oktober 2018

Georgien, das Land zwischen den Kontinenten, 2018 Partner der Frankfurter Buchmesse, weckt immer mehr Interesse auch der Reisenden. Nicht jeder wird 40 Tage Zeit haben, um das schöne Land, das uns immer noch sehr fremd ist, zu erkunden, wie es Constanze John getan hat, als sie von Tiflis bis ans Schwarze Meer gereist ist und mit vielen Menschen über ihren Alltag und ihre Sorgen und Wünsche gesprochen hat. Einführung in die Minutenwelt Aber ihr dickes Buch kann zum besseren Verständnis der Kaukasusrepublik beitragen. Kann den Lesenden die „Minutenwelt“ der Georgier, Zutisopeli, nahe bringen oder auch den Geisterglauben, der in Swanetien beheimatet ist. Die Reisebuch-Autorin aus Leipzig lässt sich ein auf ihre Gesprächspartner, bringt sie zum Reden und erfährt so manch Interessantes: Etwa dass die schmackhaften Teigtaschen, die Chinkali, möglicherweise aus China kommen, aber im „Spirit von Georgien“ neu interpretiert worden seien, zu „einer Suppe mit Rindfleisch“. Überhaupt spielt bei den Begegnungen der 59-jährigen Autorin mit den Menschen vor Ort die Supra, der für Gäste reichlich gedeckte Tisch, eine wesentliche Rolle. Die Gastgeber übertrumpfen sich gegenseitig mit Leckereien, und der Alkohol löst die Zungen. Denn bei den Gastmahlen fließt der traditionell in Ton-Amphoren, den Quevris, gereifte Wein in Strömen. Mit den…

Widersprüchlicher Kaukasus
Rezensionen / 4. Oktober 2018

Der Sage nach haben die Götter Prometheus an den Berg Kasbek gekettet zur Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer gebracht hat. Seither geht ist der Kaukasus nicht zur Ruhe gekommen. „Entlang der 1100 Kilometer langen Bergkette zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer streiten sich Großmächte und Kleinstrepubliken um Grenzen, Eigenständigkeit und Ressourcen,“ schreibt Stephan Orth in der Einleitung zu dem beeindruckenden Bildband „Kaukasus – Eine Reise an den wilden Rand Europas“. Im Kaukasus bestimmen bis heute Konflikte den Alltag Und wild ist diese immer noch unentdeckte Grenzregion, wie die großartigen Aufnahmen von Gulliver Theis zeigen. Sie nehmen die Betrachter mit in eine fremde, aufregende Welt. Eine Welt, in der noch immer Konflikte den Alltag bestimmen und die trotzdem voller Menschlichkeit ist. Eine Welt, in der Bobby-Cars Panzerform haben, die Autos auf den Straßen oft prähistorisch sind und die Nachbarländer einander zumindest mit Misstrauen begegnen. Stephan Orth und Gulliver Theis zeigen die unterschiedlichsten Seiten dieser Region: Es geht nach Russland, Georgien und Aserbaidschan – das nicht weniger konfliktreiche Armenien bleibt außen vor. Schräge Typen und gastfreundliche Menschen Unterwegs treffen die beiden Deutschen schräge Typen und gastfreundliche Menschen – und dank Handy-Übersetzungsprogramm kommen sie mit vielen ins Gespräch, wenn auch…

Georgischer Don Quijote
Rezensionen / 4. Oktober 2018

Vor 26 Jahren hat Aka Morchiladze den Roman „Reise nach Karabach“ veröffentlicht. Damals stand der junge Gio, ebenso antrieb- wie erfolglos, für eine ganze Generation, für eine Jugend ohne Plan und Ideale. Seither hat sich die Welt, hat sich Georgien gewandelt. Dennoch gibt der Roman, scheinbar hingerotzt und bis heute Kultbuch vieler Georgier, einen guten Einblick in die Probleme des Landes. Zwei Tagediebe auf einer unsicheren Reise Es beginnt als Roadmovie, als Gio, der liebeskranke Sohn eines mächtigen Mafioso, mit seinem Freund Gogliko, einem versoffenen Tagedieb, zum Drogenkauf in die Berge fährt. Die beiden wissen nichts mit ihrem Leben anzufangen, die meiste Zeit sind sie ohnehin kaum bei Bewusstsein dafür aber stolz auf sich selbst: „Wir sind aus Tbilissi. Wir wissen Bescheid, was schlecht und was gut ist. Gut ist alles, was bei uns ist, schlecht: fern von uns. Wer schlecht ist, kann für sich leben, aber er soll uns in Ruhe lassen.“ Von der Gegend, in die sie fahren, haben die beiden ebenso wenig einen Plan wie für ihr Leben. Und so landen sie in Berg Karabach, dem zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpften Landstrich. „‘Wo sind wir?‘“ fragte ich. – ‚Berg- Karabach. Nördliches Territorium, sechs Kilometer von der Front…